Das boese Blut der Donna Luna
das etwas unscharfe Bild eines blutjungen, ranken, attraktiven und sportlichen Alessandro, kein bisschen gebeugt und mit einem ernsten, entschiedenen Ausdruck in den Augen. Als die Leiche des Vaters aus dem Meer gefischt worden war, hatte sich die Mutter zwischen Genua und Savona von einer Autobahnbrücke gestürzt.
Nellys Lektüre wurde von Alberighi unterbrochen, der sie in die Wirklichkeit und zu dem, was ihr bevorstand, zurückholte. Sie hatten das San-Martino-Krankenhaus erreicht. Nelly klappte den Ordner zu, legte ihn auf den Sitz, stieg aus dem Wagen und machte sich auf den Weg in die gerichtsmedizinische Abteilung. Dort warteten nervös und angespannt ein großer, durchtrainierter Mann um die dreißig und eine blonde, elegante Frau undefinierbaren Alters – vierzig? fünfzig? sechzig? – in einem weißen Leinenkleid. Sie vermieden es tunlichst, einander anzusehen. Er rauchte unablässig, und sie wrang ihre rote Ledertasche zwischen den Händen, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Zuerst warfen sie Nelly einen abwesenden Blick zu, dann begriffen sie, dass die Polizei da war, und bestürmten sie mit Fragen, auf die sie nicht antworten konnte oder wollte.
Schließlich gingen sie hinein, und Nelly erlebte zum x-ten Mal die erschütternde Qual einer Identifizierung. Ventura wurde schlecht, sie mussten ihn stützen und nach draußen bringen. Signora Bergonzi hingegen warf einen kalten Blick auf die arme Dolores und identifizierte den Körper sowie die Kleidung zweifelsfrei, die sie selbst einmal getragen und dann an das Mädchen weiterverschenkt hatte. Dann fragte sie, wann man den kleinen Felipe abholen würde, denn die Pflegerin der Nachbarn, die mit Dolores befreundet war, musste arbeiten und konnte sich nicht um ihn kümmern, und sie und ihre alte Mutter erst recht nicht.
»Wie haben Sie Dolores Llosas kennengelernt, Signora Bergonzi?«
»Über unseren gemeinnützigen Verein ›Eine Chance für die Frauen‹ in der Via Luccoli, der sich um Immigrantinnen oder um Frauen in Schwierigkeiten kümmert, ihnen hilft, Fuß zu fassen, einen Job und eine Unterkunft zu finden. Zweimal die Woche bin ich ehrenamtlich für den Verein tätig. Wir arbeiten alle ehrenamtlich, versteht sich. Der Verein ist von einer Gruppe Genueser Damen gegründet worden, und inzwischen ist er für viele hilfesuchende Frauen zu einer festen Größe geworden.«
»Und der kleine Felipe fällt nicht in ihr karitatives Aufgabenfeld?«
Nellys Stimme klang unüberhörbar ironisch. Die Signora sah sie kalt an.
»Nein, Dottoressa Rosso, ich weiß wirklich nicht, was wir für den Kleinen tun könnten. Darum müssen sich Stellen kümmern, die für verlassene Minderjährige zuständig sind, er muss irgendwo untergebracht werden, was weiß ich, in einer Pflegefamilie oder irgendeiner Einrichtung ... Ich glaube nicht, dass er Familie in Italien hat.«
Die Wohltäterin zuckte gleichgültig mit den Schultern. Ventura, der zusammengesunken auf einer Bank saß und dem man ein Glas Wasser gebracht hatte, schien sich inzwischen wieder im Griff zu haben. Er stand auf und kam zu ihnen.
» Comisario, yo kann den niño nehmen, mi madre, wissen Sie , kümmert sich um unsere hijos , um Maria y Manuel, sie kann auch Felipe nehmen, pobrecito . Er kennt uns, wird weniger einsam sein, der Arme ...«
Er sprach ein seltsames, spanisch durchsetztes Kauderwelsch, doch man verstand ihn.
»Vielen Dank. Ich glaube zwar nicht, dass das ohne eine offizielle Zuweisung möglich ist, aber vorerst, bis jemand vom Sozialamt sich um ihn kümmert, kann der Kleine bestimmt bei Ihnen bleiben. Er kennt Sie, und das wird den Schock über das Verschwinden der Mutter mildern. Dann sehen wir weiter. Wir können ihn sofort holen gehen. Ich würde sowieso gerne sehen, wo Dolores gearbeitet hat, vielleicht auch mit Ihrer Mutter reden, Signora Bergonzi, wenn das möglich ist. Glauben Sie, Sie können uns begleiten, Signor Ventura?«
»Mir geht es gut, mir geht es gut, es ist vorbei. Vorbei«, wiederholte er leise, doch es war nicht zu übersehen, dass das, was er vor wenigen Minuten hatte sehen müssen, die Leiche der Mutter seiner Kinder, ohne Kopf, ohne Identität, ohne Leben, sich für immer auf seiner Netzhaut eingebrannt hatte.
Die wohltätige Dame stimmte erleichtert der Übergangslösung für das plötzlich zu einer Last gewordene Kind zu. Sie ging ihr Auto holen, einen Smart. Ventura, der zu Fuß gekommen war, stieg mit Nelly in den
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