Das boese Blut der Donna Luna
Via Cantore und der Via Buranello, den beiden Hauptverkehrsadern des Viertels, herüberdrang, war die Straße voller geschäftiger, arbeitender Menschen. Sie stiegen in den dritten Stock. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sich Felipe in der ungewohnten Umgebung um und fragte, ob Maria und Manuel zu Hause seien. Als Ventura bejahte, verzog sich sein Mund zu einem breiten Lächeln.
Pedro schloss die Tür auf. Sie betraten eine frisch sanierte Wohnung, die noch nach Farbe roch. In der Tür zur Wohnküche tauchte eine kleine, magere Frau mit weißmeliertem Haar auf. Die Ähnlichkeit mit Pedro war nicht zu übersehen. Stumm fragend blickte sie ihren Sohn an. Er schüttelte den Kopf und senkte den Blick. Die Frau schlug die Hände vor der Brust zusammen und lehnte sich an die Wand. Bestimmt wäre sie in Tränen ausgebrochen, wenn hinter ihr nicht ein ungefähr dreijähriges Mädchen aufgetaucht wäre, das fröhlich rief: »Papa, du hast ja Felipe mitgebracht, wie schön!« Und auch Felipe stieß kleine Freudenschreie aus und wurde von ihr in ein winziges Zimmerchen gezerrt. Nelly, Pedro und seine Mutter schwiegen einen Moment; der Schmerz der beiden war nicht in Worte zu fassen. Endlich streckte Pedro die Hand aus und streichelte die magere Schulter der Mutter.
»Ja, Mamá, es ist leider wahr. Das Unglück hat an unsere Tür geklopft. Wir dürfen den Mut nicht sinken lassen. Felipe bleibt ein Weilchen hier bei uns, dann wird er abgeholt. Seine Mutter ist mit Ermelinda von uns gegangen, mit unserer Ermelinda ...«
»Der Herr hat uns schweres Leid auferlegt, er wird uns auch die Kraft geben, es zu ertragen«, wisperte die Frau mit zitternden Lippen. Endlich schien sie Nelly zu bemerken. Sie forderte sie auf, sich zu setzen, und bot ihr einen Orangensaft an, den Nelly gern annahm. Nelly setzte sich an den Tisch der geräumigen Wohnküche und blickte sich aufmerksam um. Die Räume waren heiter und sehr sauber, die Möbel neu. Auch die Küche war neu, Ikea, dachte Nelly. Pedro folgte ihrem Blick.
»Wir haben alles auf Raten gekauft, Ermelinda y yo , sogar ein Darlehen für die Wohnung haben wir aufgenommen. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie wir das jetzt schaffen sollen ... aber irgendwie wird es schon gehen.«
Dann zeigte er ihr das Schlafzimmer der Mutter, das von ihm und Ermelinda und das kleine, aber fröhliche, bunte Kinderzimmer, in dem Felipe und Maria auf einem blauen Teppich lagen und ausgelassen quietschend etwas aus Lego bauten. Es stand ein Stockbett darin, mit einem dritten Bett zum Ausziehen darunter.
»Wir werden das Jugendamt informieren, die sehen dann bei Ihnen vorbei, keine Ahnung, was die entscheiden werden. Aber wo ist Ihr zweites Kind – Manuel, richtig?«
»Manuel ist sechs, er hat die ganze Zeit nach der Mama gefragt. Der kriegt schon einiges mit und war ziemlich beunruhigt. Jetzt ist er hier bei einer Nachbarin und spielt mit seinem Freund aus dem Kindergarten, ich hab gehofft, das könnte ihn ein bisschen ablenken. Im September kommt er in die erste Klasse. Ermelinda hat ihm schon das Schulkittelchen gekauft ...«
Die alte Frau konnte sich nicht mehr zurückhalten und flüchtete in ihr Schlafzimmer. Durch die geschlossene Tür drang gedämpftes Schluchzen.
»Meine Mutter hatte Ermelinda sehr gern. Zum Glück, denn manchmal sind Schwiegermutter und Schwiegertochter ...«
»Und Sie, Pedro, wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Frau?«
»Ich liebte Ermelinda. Ich liebe sie noch. Wir haben alles gemeinsam aufgebaut. Es war ... zu schön, um zu bestehen.«
Seine Stimme erstickte.
»Hatten Sie Freunde, Feinde?«
»Feinde, wir? Nadie, nadie! Ein paar Freunde. Dolores, Diego, ein paar andere, mit denen wir uns getroffen haben, meistens im Club ›Speranza‹. Wir haben unsere wenige freie Zeit entweder da oder am Strand mit den Kindern verbracht. Ich habe kein Auto, wenn wir Spaziergänge am Meer oder in den Bergen gemacht haben, sind wir mit dem Bus gefahren. Oder der Bergbahn. Ab und zu. Wir arbeiten fast rund um die Uhr. Wir hatten gehofft, dass wir später ... aber jetzt wird es kein Später mehr geben.«
Ein Blick auf Ermelindas Habseligkeiten bot wenig Aufschluss. Wie bei Dolores: Souvenirs, Familienfotos, ein paar Gegenstände aus der Heimat, eine italienische Grammatik. Heftiger Groll über die Ungerechtigkeit, die diesen unschuldigen Menschen widerfahren war, schnürte Nelly die Brust zu, als sie zum dritten Mal mit egoistischer Erleichterung in die Sonne hinaus trat und dem
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