Das boese Blut der Donna Luna
Schmerz den Rücken kehrte. Schweigend ließ sie sich ins Zentrum fahren, verabschiedete sich von Alberighi und machte sich mit Palmieris Akte in der geräumigen Ledertasche auf den Weg zu Don Silvanos Verein. Schon seit langem hatte sie dort hingehen wollen. Sie rief Tommi Bentivegna an, gab ihm die Adresse von Ermelindas Arbeitgebern und bat ihn, hinzufahren und sich umzuhören.
Der von Don Silvano Traverso geleitete Verein »Mani amiche« – Helfende Hände – befand sich in der Altstadt und nahm fast einen ganzen antiken, meerseitig gelegenen Palazzo hinter der Via Balbi ein. In gewissem Sinne war er ein Musterbeispiel dafür, wie man mit geringen Mitteln viel erreichen konnte. Dass der Wille tatsächlich Berge versetzte. Don Silvano war ein kräftiger und energischer Priester Mitte vierzig mit kastanienbraunem Haar und durchdringenden schwarzen Augen. Er war ständig in Bewegung, als liefe er dauernd hinter etwas her. Man sah sofort, dass er kein einfacher Mensch war. Vor zwanzig Jahren hatte er angefangen, sich um Drogensüchtige zu kümmern, dann hatte er seine Tätigkeiten auf Immigranten ausgeweitet, vor allem auf Risikokandidaten. Ohne einen Cent und nur mit dem Willen, etwas zu bewegen, war es ihm gelungen, das schäbige Loch im Parterre, in dem er angefangen hatte, mit Hilfe von Spenden, Privatfonds und freiwilligen Helfern zu erweitern, bis er schließlich das gesamte Gebäude eingenommen hatte, in dessen Erdgeschoss sich jetzt die Vereinsbüros und Werkstätten befanden, wo jeder, der wollte, ein Handwerk erlernen konnte. In den Stockwerken darüber gab es Schlafräume für Obdachlose und Mini-Appartments für Familien, die natürlich chronisch überbelegt waren und den Bedarf nicht im Mindesten decken konnten. Dazu hatte der Verein ein Haus mit Vieh und Ländereien im Hinterland erhalten und saniert, das den Härtefällen vorbehalten war, Langzeitsüchtigen, die sich von der Altstadt und ihren Verführungen fernhalten mussten und durch den Kontakt mit der Natur und vor allem durch Arbeit wieder zu sich selbst finden sollten. Mit den landwirtschaftlichen Erträgen dieser Wohn- und Arbeitsgemeinschaft wurde die Bedürftigenmensa versorgt, die Don Silvano im ersten Stock betrieb. Eine unglaubliche Leistung, die dem Priester physisch und womöglich auch psychisch einiges abverlangt hatte. Der Wille hatte jedoch nicht gelitten.
Als Nelly eintraf, war Don Silvano gerade dabei, einem reumütig dreinblickenden Jungen mit aufgekrempelten Hemdsärmeln und schweißglänzender Stirn die Leviten zu lesen. Der Priester drehte sich zu ihr um und nahm sie mit seinem typischen prüfenden Blick ins Visier, der sie wie immer ein bisschen befangen machte, als hätte er sie bei etwas erwischt. Seine Schützlinge und Mitarbeiter hatten es bestimmt nicht immer leicht mit ihm. Und die, die ihm aus irgendeinem Grund gegen den Strich gingen, erst recht nicht.
»Dottoressa Rosso, wie geht’s? Es ist immer schön, Sie zu sehen. Probleme?«
»Und ob, Don Silvano. Schlecht geht’s. Sie werden bestimmt die Zeitungen gelesen haben.«
»Kommen Sie mit in mein Büro, dann reden wir.«
Der Junge nutzte die Gelegenheit und machte sich offensichtlich erleichtert aus dem Staub, während Nelly mit einem resignierten Seufzer dem Priester folgte. Sie betraten einen Raum voller Regale, die von Akten und Karteikästen überquollen. Hinter einem Schreibtisch saß ein junger Mann, der eifrig in den Computer tippte.
»Lass uns bitte allein, Luigi.«
Luigi hastete hinaus und stieß in der Eile fast seinen Stuhl um. Don Silvano schloss die Milchglastür. Er setzte sich an den Schreibtisch, den der Junge eben verlassen hatte, und bedeutete Nelly, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
»Also, Dottoressa, was gibt’s? Ist es wegen dieser Verbrechen? Ich habe Sie schon seit einer Weile erwartet.«
Es klang vorwurfsvoll. Sofort hatte Nelly ein schlechtes Gewissen und fühlte sich genötigt, sich zu rechtfertigen: Sie hatte schon längst vorbeikommen wollen, seit die ganze Sache losgegangen war (wahr), doch die Ereignisse hatten sich dermaßen überschlagen, dass es einfach nicht möglich gewesen war (nur zum Teil wahr), aber jetzt war sie endlich hier und brauchte seine Hilfe (sehr wahr).
Don Silvano schwieg, das Kinn auf die gefalteten Hände gestützt, die Ellenbogen auf den Schreibtisch gestemmt. Die folgende halbe Stunde sagte er kein Wort, derweil Nelly ihm zahlreiche Fakten darlegte (außer jenen natürlich, die dem
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