Das Böse, das im Herzen schläft: Thriller (German Edition)
dann keinen Zettel hingelegt? Weil dazu vielleicht keine Zeit gewesen war. Sophies und Wills Telefonnummern klebten noch an der Wand. Vielleicht hatte Kerry es so eilig gehabt, dass sie vergessen hatte, sie mitzunehmen, und trat sich deshalb jetzt selbst in den Hintern. Vielleicht hatte sie sie auch in ihrem eigenen Telefon gespeichert und versuchte in diesem Moment durchzukommen. Sophie hielt ihr nutzloses Handy in der einen Hand, den Hörer des nutzlosen Festnetztelefons in der anderen und starrte stupide ein paar Augenblicke vor sich hin, bevor ein unbewusster Impuls sie zum Handeln trieb.
Mit dem Handy in der Hand setzte sie sich ans Steuer von Matts Auto, drehte den Zündschlüssel im Schloss und legte den Schalthebel der Automatik in Fahrposition. Sie spürte ihren Herzschlag in den Fußsohlen und in den Handflächen, als sie auf die Landstraße zurückfuhr. Mit einem Auge spähte sie nach vorn, mit dem anderen auf das Display ihres Telefons, um sofort zu sehen, wenn sie wieder Netzempfang hätte. Der Wagen, der sich auf dem Weg hierher so leicht gefahren hatte, war plötzlich doppelt so ungewohnt in einem Augenblick, da sie dringend auf Autopilot schalten musste, statt ans Fahren zu denken, und obwohl sie die linke Hand frei hatte, tastete sie nach einem beruhigenden Schalthebel, damit sie etwas zu tun hatte. Ihre Aufmerksamkeit blieb für einen Augenblick an der zusammengefalteten Jacke auf dem Beifahrersitz hängen. Wieso lag sie da? Sie blinzelte in den Nebel hinaus und versuchte auszurechnen…
Charlie. Sie hatte Charlie vergessen.
Sophie stellte den Fuß auf die Bremse und ließ ihn dort. Er schlief und würde wahrscheinlich nicht aufwachen. Aber wenn es nun kein Unfall gewesen war, sondern eine häusliche Notsituation, die sich da zusammenbraute, was Kerry aus dem Haus getrieben hatte? Eine undichte Gasleitung zum Beispiel– das ganze Haus konnte kurz vor der Explosion stehen. Der Teil ihrer selbst, der immer noch glaubte, es gebe eine vernünftige Erklärung für all das und die Lösung des schrecklichen Rätsels der verlassenen Scheune liege elektronisch gespeichert in ihrer Mailbox, dieser Teil ihrer selbst sagte ihr, dass Edie wohlauf war. Diese Überzeugung zusammen mit dem Bild eines sich dunkel färbenden Kohlenmonoxiddetektors vor ihrem geistigen Auge– warum hatte sie nicht nachgesehen?– und der Vorstellung von dem, was passieren würde, wenn die anderen zurückkämen und Charlie allein in der Scheune fänden, ließen sie umkehren.
Die Beschleunigung des Wagens war stärker, als sie es gewohnt war, und als sie Gas gab, schoss sie vorwärts in eine Hecke. Sie wollte zurücksetzen, aber in ihrer Verwirrung suchte der Fuß die Kupplung, und sie trat auf das Gaspedal statt auf die Bremse. Ihr Inneres machte einen Satz, sie spürte einen starken, dumpfen Aufprall, und plötzlich lag sie auf dem Rücken und starrte nicht auf die Hecke und den Fahrweg, sondern durch die Frontscheibe nach oben in den wirbelnden Himmel. Die Motorhaube ragte vor ihr auf wie eine Wand aus Stahl. Es dauerte ein paar kostbare Sekunden, bis sie begriff, dass die hintere Hälfte des Wagens in den Graben geraten war. Sie öffnete die Tür, und es gelang ihr, sich hinauszustemmen. Sie landete knöcheltief im stinkenden Grabenwasser. Schlammklumpen klebten an ihren Beinen, als sie die flache Böschung hinaufkroch.
Sie drehte sich um und sah, dass Matts Auto schräg aus dem Graben ragte. Die Scheinwerfer schnitten eine leuchtende Diagonale durch den Dunst. Es war nicht unmöglich, den Wagen herauszuholen, aber allein konnte sie es nicht.
Sie rannte querfeldein, wie sie nicht mehr gerannt war, seit sie zur Schule ging. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Der Atem zerriss ihr beinahe die Lunge. Undeutlich spürte sie eine schleichende, kalte Nässe in einem ihrer Stiefel, die ihre Socke durchdrang. Bei jedem Schritt fühlte sie, wie jede einzelne Faser ihrer Beinmuskeln sich dehnte und zusammenzog.
Als die Scheune näher kam, erwachte in ihr die Hoffnung, das Ganze könnte ein Irrtum sein. Sie wünschte, sie sei verrückt, und betete zum Himmel, dies möge nichts als eine verspätet einsetzende postnatale Psychose sein. Mit Freuden würde sie sich noch einmal für ein Jahr in die psychiatrische Klinik einweisen lassen, wenn dafür Edie nur warm und wohlbehalten ganz in der Nähe und die einzige schreckliche Macht, die hier am Werk war, ihre eigene Fantasie wäre.
Das Licht, das durch die offene Tür herausfiel,
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