Das Boese in uns
anderen Zweck haben, als zur Liebe zu finden.«< Er klappt das Buch wieder zu und streicht beinahe zärtlich über den Einband. »Ich liebe diesen Absatz. Er ist ein Stück Wahrheit. Was immer aus meiner Kirche werden mag, welche Fehler übereifrige oder intolerante Gemeindemitglieder auch begehen mögen, welche Verbrechen von bösen Menschen begangen werden, die sich als Männer Gottes maskieren - ich lese diesen Absatz und weiß, dass das Problem bei den Menschen liegt, nicht bei meiner Kirche oder meinem Glauben. Es sind die Verleugner der Kirche, die ihre Handlungen nicht an der Reinheit dieses einen Absatzes ausrichten - an dem Gedanken, dass wir kein anderes Ziel verfolgen, als zur Liebe zu finden.«
»Ein hübscher Gedanke«, räume ich ein. »Zu schade, dass er viel zu selten in die Praxis umgesetzt wird.« Ich verziehe das Gesicht. »Bitte verzeihen Sie, Vater.«
Er lächelt. »Ich stimme Ihnen durchaus zu. Konfrontation und Angriff sind nicht der richtige Weg, um einen Menschen zu Christus zu führen. Man sagt den Leuten nicht, dass sie dumm sind und zur Hölle verdammt - man zeigt ihnen die Worte Christi oder setzt durch das eigene Tun ein Beispiel, an dem sie sich orientieren können. Oder man hilft ihnen einfach nur, wenn sie Hilfe benötigen. Der Glaube ist etwas Freiwilliges. Man kann ihn nicht mit vorgehaltener Waffe erzwingen.«
»Ich verstehe, worauf Sie damit hinauswollen«, sagt Alan. »Der Prediger verkörpert allerdings nicht gerade die Vorstellung christlicher Nächstenliebe.«
Vater Yates runzelt die Stirn. »Mord ist niemals ein Akt der Liebe. Dieser Mann macht sich bestenfalls etwas vor.«
»Was ist mit seinen Ideen?«, frage ich. »Was er über die Wahrheit sagt?«
Vater Yates seufzt. »Ich will ganz ehrlich sein. Die Ideen an sich sind durchaus interessant. Ich nehme seit vielen Jahren die Beichte entgegen, und ich habe das Phänomen, von dem dieser Mann spricht, selbst erlebt. Das Schwierigste für die Menschen ist nicht, die Wahrheit zu sagen, sondern die ganze Wahrheit. Ich bin sicher, dass viele Leute mit dem übereinstimmen, was er sagt. Sie können darauf wetten, dass er Anhänger hat.«
»Machen Sie Witze?«, frage ich ungläubig.
»Ich fürchte nein. Viele Menschen in der christlichen Welt glauben an Schwarz oder Weiß und leben nach dem Prinzip >Jeder bekommt, was er verdient<, wenn es um Gott und die Bibel geht. Und wenn man seine Sünden nicht beichtet, landet man eben in der Hölle. Einige Leute werden sicherlich der Meinung sein, dass die Opfer dieses Mannes selbst schuld an ihrem Schicksal sind. Sie waren nicht bereit, ihre Sünden vor Gott zu beichten, und mussten dafür bezahlen.«
Ich starre auf das Kruzifix, auf den Christus mit der abblätternden Farbe, auf der Suche nach dem Trost, den Vater Yates in seinem Anblick zu finden scheint. Mich tröstet der Anblick nicht - wie immer. Wie kann ich an eine Kirche glauben oder einer Religion anhängen, die Menschen wie den Prediger hervorbringt?
»Vergessen Sie nicht das Gute, das getan wird«, sagt Vater Yates und reißt mich aus meinen Gedanken. »Die Millionen Kinder, die dank christlicher Wohlfahrt jeden Tag zu essen bekommen. Denken Sie an die Unterkünfte, die für die Heimatlosen errichtet werden, an die Missionen mit ihren Schulen, Hospitälern und Garküchen. Vor gar nicht langer Zeit ging eine Gruppe von Christen aus Südkorea nach Afghanistan. Sie wussten, dass es gefährlich ist, und sie waren vermutlich schlecht beraten, aber darum geht es gar nicht. Entscheidend ist, dass diese Leute keinerlei Hintergedanken hatten. Sie gingen ihren Weg, um zu helfen. Sie wurden als Geiseln genommen. Der größte Teil von ihnen wurde freigelassen, doch einige hat man getötet. Religion war immer ein zweischneidiges Schwert und wird es immer bleiben. Es kommt darauf an, wie man sie benutzt, und das hängt in jedem einzelnen Fall vom Individuum ab.«
Er hält kurz inne; dann fährt er fort: »Es ist wie bei allem anderen auch. Gäbe es kein Internet, gäbe es weniger Pornographie und Kindesmissbrauch. Aber was ist mit all dem Guten, das getan wird, gerade weil das Internet existiert? Handel, freier Informationsfluss, das Niederreißen kultureller Barrieren, ein Nachlassen der Fremdenfeindlichkeit, weil die Menschen zum ersten Mal kreuz und quer über die ganze Welt miteinander reden können. Alles kann zum Guten oder zum Bösen benutzt werden. Das schließt die Kirche mit ein - und sämtliche Interpretationen der
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