Das Boese in uns
Mann. Treten Sie ihm nicht auf die Füße.« Er hatte seine Uniformmütze unter den Arm geklemmt. Jetzt zieht er sie hervor und setzt sie sich auf. »Ich gehe raus und füttere die Piranhas von den Medien.«
Er geht zur Tür und rennt beinahe Callie um, die gerade hereinwill.
»Wow, der Commissioner!«, haucht sie, schmachtet ihn an und klimpert mit den Wimpern. »Ich fühle mich ja so was von geehrt, so früh hier zu sein.«
»Kennst du Alvarez?«, frage ich Alan.
»Nur dem Namen nach.«
Ich seufze. »Es hilft uns nicht weiter, wenn wir das vor uns herschieben. Gehen wir rauf und sehen wir uns den Tatort an.«
Raymond Alvarez ist ein kleiner Mann von vielleicht einsfünfundsechzig. Doch er ist durchaus ansehnlich, und unter dem Latex des Einweghandschuhs seiner linken Hand kann ich einen Ehering erkennen. Alvarez ist energiegeladen und gestikuliert beim Reden heftig mit den Händen.
»Der Vater ist zusammen mit der Mutter im Krankenhaus. Sie ist ausgeflippt. Hat die Küche zertrümmert, das Porzellan zerschmettert, Stühle durch die Fenster geworfen und was weiß ich. Sie hat sich die Hände ziemlich übel zerschnitten. Alles war voller Blut. Man musste ihr gewaltsam ein Beruhigungsmittel verabreichen.«
»Haben Sie es gesehen?«
»Wie die Frau ausgeflippt ist? Ja. Schien echt zu sein, wenn Sie mich fragen.«
Manchmal täuschen die Schuldigen hysterische Anfälle vor, um den Verdacht von sich abzulenken. Es ist nicht einfach, so gut zu schauspielern. Echte Trauer, wie man sie empfindet, wenn ein naher Angehöriger ermordet wurde, ist immer spontan. Manche Menschen schreien, manche weinen, manche erstarren, manche fallen in Ohnmacht.
»Können wir Valerie sehen?«, frage ich.
»Hier entlang.«
Er fragt nicht nach dem Grund. Wozu auch? Wenn man sich einen Leichnam am Ort eines Verbrechens anschauen will, gibt es keine Alternative. Er führt uns den Gang hinunter, am Elternschlafzimmer vorbei. Der Boden ist mit beigefarbenem Teppich ausgelegt, die Wände sind weiß gestrichen: Kalifornien auf seine langweiligste, behäbigste Weise. Wir kommen an Fotos vorbei, die an den Wänden hängen, jeder Rahmen schwarz, jedes Bild im gleichen Stil. Die Cavanaughs sind ein hübsches Paar, er mit den kurzen blonden Haaren, sie mit der langen blonden Mähne, beide mit den weißesten Zähnen, die ich je gesehen habe. Sie lächeln und zeigen diese strahlenden Zähne auf jedem Bild. Schöne Menschen. Ein Mädchen - ich nehme an, es ist Valerie - ist auf mehreren dieser Fotos zu sehen, ebenfalls blond und ebenfalls lächelnd und mit den gleichen perlweißen Zähnen, die sie von ihren Eltern geerbt hat.
Valerie war zehn, als sie starb. Meine Tochter Alexa war zehn, als sie starb. Bonnie war zehn, als sie in mein Leben trat.
Eine magische Zahl.
»Hier entlang. Ziehen Sie bitte Handschuhe und Papierüberschuhe an«, sagt Alvarez und deutet auf zwei Kisten, die vor dem Zimmer stehen.
Wir kommen seiner Bitte nach - und dann steigt mir auch schon dieser Geruch in die Nase, jene einzigartige Mischung aus Latex und Blut. Wir betreten das Zimmer. Es ist von oben bis unten in Pink gehalten: die kleine Prinzessin bis zum Exzess. Die Wände sind pink, das Bett hat einen pinkfarbenen Himmel, die pinkfarbene Bettdecke ist spitzenbesetzt. Zahlreiche Stofftiere bevölkern Bett und Boden. Ein kleiner - pinkfarbener - Schreibtisch steht in einer Ecke, mit einem Computer darauf. Der Monitor ist eingeschaltet, wie ich bemerke.
Doch es ist Valerie, die unsere Aufmerksamkeit fesselt - die Aufmerksamkeit aller, die sich im Zimmer aufhalten. Valerie liegt auf dem Rücken, die Arme auf der Brust verschränkt. Ihre starren Augen sind weit offen. Ihre blonden Haare umgeben ihren Kopf wie ein Fächer. Blut ist aus der Wunde in der Seite ausgelaufen und durchtränkt das Bettzeug und den Teppichboden mit einem Burgunderrot, das einen scheußlichen Kontrast zu all dem Pink bildet. Valeries Mund ist geschlossen. Die weißen Zähne sind nicht zu sehen.
»Sie ist nackt«, beobachtet Alan.
»Die Pose ist aber nicht sexueller Natur«, bemerke ich.
»Stimmt.«
Ich wende mich an Alvarez. »Wer hat sie gefunden?«
»Der Vater. Sie kam nicht zum Frühstück nach unten. Da ist er nach oben gegangen, um nach ihr zu sehen, und hat sie so vorgefunden.«
»Der Vater hat sie nicht angerührt«, sagt Callie. »Eigenartig.«
Sie meint damit, dass Valerie in der gleichen Haltung daliegt, in der sie gestorben ist, wie wir am Muster des Blutflusses aus der
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