Das Boese in uns
nichts, absolut nichts. Sie hatte eine feste Arbeit, und sie hat jedes Wochenende freiwillig in der Kirchengemeinde geholfen. Alles deutet daraufhin, dass sie es geschafft hatte und clean geworden war.«
»Ich kann verstehen, warum Ihnen diese Sache zu schaffen macht«, sage ich.
Die meisten Leute halten uns Cops für Zyniker, und da ist auch was Wahres dran. Wir sehen das Schlimmste, das Menschen zu tun imstande sind. Es macht uns vorsichtig. Doch wir sind auch nur Menschen. Die meisten Kollegen und Kolleginnen, so verhärtet sie auch sein mögen, glauben noch immer, dass jemand sein Leben aus freien Stücken ändern kann, wenn er will. Dass ein Ganove eines Tages aufwachen und beschließen kann, ein guter Mensch zu werden. Es ist nur ein Vielleicht, doch dieser heimliche Wunsch erlischt niemals ganz. Niemand kann mit der Vorstellung leben, dass der Mensch von Natur aus böse ist, und damit glücklich sein.
»Ja, diese Sache macht mir schwer zu schaffen«, räumt Atkins ein. »Wie dem auch sei ... es war Mord. Leider haben wir nichts als Sackgassen. Die Spurensicherung hat nichts gefunden. Wir haben auch keine noch lebenden Verwandten oder Bekannten finden können. Zehn Tage sind vergangen, und es gibt noch immer keinen Tatverdächtigen.« Er schüttelt den Kopf. »Ich bin schon eine ganze Weile in diesem Beruf, Agentin Barrett, und ich weiß, wann ein Fall kalt wird. Der hier war von Anfang an kalt - bis zu dem Augenblick, als Agent Washington mich angerufen hat.«
»Gab es Hinweise auf sexuellen Missbrauch? Ejakulat in der Nähe des Leichnams?«
»Nichts dergleichen.«
»Wie wurde ihre Leiche gefunden? Waren ihre Beine gespreizt oder geschlossen?«
»Geschlossen. Die Arme über der Brust verschränkt.« »Interessant«, sage ich leise. »Was?«, fragt Atkins.
»Das andere Opfer war transsexuell. Rosemary war ehemalige Porno-Darstellerin und sexsüchtig. Geht man von unseren Opfern aus, hätte ich bei den Verbrechen eine sexuelle Komponente erwartet, doch keine Spur davon, in beiden Fällen. Die einzige Gemeinsamkeit aber ist das Kreuz. Sehr merkwürdig.«
»Was könnte das bedeuten?«, will Alan von mir wissen.
Ich schüttle den Kopf. »Kann ich noch nicht sagen. Warten wir ab, was der Priester uns erzählt.«
»Rosemary war einer meiner größten Erfolge. Eine Rosemary war zehn Fehlschläge wert, verstehen Sie?«
Vater Yates ist ein Mittfünfziger mit militärisch kurzem, graumeliertem Haar, derben, attraktiven Gesichtszügen und klugen dunklen Augen. »Priesteraugen«, wie ich sie bei meinen Freunden nenne. Es liegt zu viel Freundlichkeit in diesen Augen, als dass sie selbstgerecht wären, und es spiegelt sich zu viel Wissen um die Sünde darin, als dass man irgendetwas vor ihnen verbergen könnte. Ich bin katholisch aufgewachsen, auch wenn ich seit langem nicht mehr der Kirche angehöre, und ich kenne die Sorte Priester, zu der Yates gehört. Zugänglich, praktisch und fromm, ohne den Realitäten des Lebens gegenüber blind zu sein.
Vielleicht wäre ich nicht aus der Kirche ausgetreten, gäbe es mehr Priester wie ihn.
Er ist ein großer Mann, gut einsneunzig, und dünn, ohne schlaksig zu wirken. Er trägt ein kurzärmeliges Hemd mit dem charakteristischen weißen Stehkragen. Seine Hände sind rastlos. Er ist ein energischer Mann, ein Mann der Tat. »Das Werk Gottes zu tun« bedeutet für ihn, für Gott zu malochen.
Er ist mir auf Anhieb sympathisch.
»Ich verstehe, Vater. Wir genießen hin und wieder ähnliche Siege, und sie machen die Fehlschläge wett. Größtenteils.«
Die Priesteraugen fixieren mich, und ich spüre das vertraute Aufwallen von Schuldgefühlen. Er kennt mich, er kennt mich genau. Er weiß, dass ich hin und wieder mithilfe eines Vibrators masturbiere. Er weiß, dass ich eine heimliche Lust dabei empfinde, einen Mann mit dem Mund zu befriedigen.
Jesus, schießt es mir durch den Kopf. Und ich dachte, ich hätte das alles hinter mir.
Natürlich weiß ich, dass ich mir das alles nur einbilde. Vater Yates ist kein Gedankenleser. Außerdem kenne ich das Phänomen: Steck einen Zivilisten in ein Verhörzimmer mit mir, und er empfindet mir gegenüber genauso.
»Ja«, antwortet Yates und nickt. »Es gibt eine Menge Parallelen zwischen dem, was wir tun.«
»Ganz sicher«, pflichte ich ihm bei. »Wir kennen beide die dunklen Seiten der Menschen. Sie haben wahrscheinlich schon von den meisten Verbrechen gehört, die ich gesehen habe.«
Er winkt ab. »Im Beichtstuhl habe ich
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