Das Boese in uns
gewöhnt. Ich habe nichts dagegen, wenn gewisse Bevölkerungsteile mein Gesicht mustern. Detectives vom Morddezernat beispielsweise, wie Atkins einer ist. Sein Interesse ist aufrichtig. Er sieht mich fragend an, zuckt die Schultern und belässt es dabei. Kein Abscheu, kein Entsetzen, kein Aufstand. Die meisten Arzte reagieren so. Kleine Kinder durchlaufen eine ganze Skala von Gefühlen, angefangen bei »Ist das dein richtiges Gesicht?« bis hin zu »Wow, cool!«.
»Danke, dass Sie bereit waren, sich so spät noch mit uns zu treffen«, sage ich und ergreife seine ausgestreckte Hand.
»Kein Problem. Wenn es uns hilft, diesen Fall zu knacken.« Seine Augen sind ausdruckslos, als er das sagt. Ohne Emotion. »Diese Geschichte macht mir wirklich Sorgen, wissen Sie.«
Er führt es nicht weiter aus. Das braucht er auch nicht. Man sieht viele Tote in unserem Beruf, und manche dieser Leichen verwandeln sich in Geister, die einen regelrecht verfolgen.
»Erzählen Sie uns davon«, fordert Alan ihn auf.
Atkins nickt. »Ich werde Ihnen von ihrem Tod erzählen. Aber ich habe mir gedacht, ich bringe Sie zuerst zu einem Mann, der Ihnen etwas über ihr Leben erzählen kann.«
»Und wer ist dieser Mann?«, frage ich.
»Vater Yates. Ein katholischer Priester, der Rosemary mehr oder weniger wortwörtlich aus der Gosse geholt hat.«
Alan sieht mich an und hebt fragend eine Augenbraue.
»Wenn schon, dann richtig«, sage ich und verdränge meine Erschöpfung mit Humor. Ich zeige auf Atkins' Wagen. »Sie fahren. Sie können uns auf dem Weg zum Tatort alles erzählen.«
Ich vermute, amerikanische Autohersteller werden wohl so lange im Geschäft bleiben, wie es die Polizei gibt. Der Wagen ist ein aufgemotzter Crown Vic, nicht schwarz und weiß wie üblich, sondern nur schwarz mit einem mächtig bösen Motor unter der Haube.
Es ist dunkel geworden draußen, der Mond scheint, und wir sind wieder auf dem Freeway 118. Derzeit herrscht Berufsverkehr light. Andere Fahrzeuge sind vor und hinter uns, doch Abstand und Geschwindigkeit sind erträglich. Der Himmel ist wolkenlos, der Mond voll. Silbern, nicht gelb. Einige der felsigen Berge in der Ferne sehen aus, als wären die Gipfel schneebedeckt.
Ich sitze vorne, neben Atkins. Alan sitzt im Fond.
»Rosemary Sonnenfeld«, beginnt Atkins. »Alleinstehende weiße Frau, vierunddreißig, einsfünfundsechzig groß, ungefähr siebenundfünfzig Kilo, körperlich in guter Verfassung. Sie wurde tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Neben ihr auf dem Nachttisch lag ein Beutel Kokain. Auf den ersten Blick sah alles danach aus, als wäre Rosemary ihrem altem Laster erlegen. Sie war Ex-Prostituierte, Ex-Pornodarstellerin und Ex-Drogensüchtige. Ich dachte zuerst, sie hätte einen Trip genommen und wäre an einer Überdosis gestorben, wegen mangelnder Gewöhnung.«
»Und was hat Ihre Meinung geändert?«, fragt Alan.
»Ein genauerer Blick. Die Autopsie ergab, dass sie genug Koks im Blut hatte, dass ein Pferd an der Dosis gestorben wäre, aber sie hatte auch eine Stichwunde in der Seite.«
»Interessant«, sage ich. Ich bin noch nicht bereit, Informationen über Lisa Reid preiszugeben.
»Ja. Und dann war da noch das Kreuz. Ein silbernes Kreuz, fünf Zentimeter lang, zweieinhalb Zentimeter breit. Auf der Rückseite waren ein Totenschädel, gekreuzte Knochen und die Zahl 142 eingraviert. Das Kreuz fand sich in ihrer Leibeshöhle. Jemand hat es eingeführt.«
Wie bei Lisa Reid, geht es mir durch den Kopf. Und 142 Lisas Kreuz hatte Nummer 143.
»Und als wären das noch nicht genug Beweise für einen Mord«, fährt Atkins fort, »fanden wir heraus, dass das Kreuz erst nach ihrem Tod eingeführt worden ist.«
»Das ist allerdings ziemlich beweiskräftig«, sagt Alan.
»Und dann ist da noch Vater Yates ...«
»Der Priester«, sage ich.
»Ja. Vater Yates tut viel Gutes in der Gemeinde, ein sanfter Mann, aber kein Narr. Er hat Rosemary einmal im Monat zum Urintest in eine örtliche Klinik geschickt.«
»Tatsächlich?«, frage ich überrascht. »Klingt mir nach einem wenig vertrauensvollen Priester.«
Atkins lächelt. »Vater Yates ist Realist. Er ist ein wahrer Gläubiger und vollbringt zahlreiche gute Taten. Doch er hält sich an eine Regel. Wenn er einem hilft und ihn bei sich aufnimmt, hat man drei Rückfälle frei, bevor er sich von einem abwendet.«
»Und Rosemary ist clean geblieben?«
»Mehr als vier Jahre lang. Ich habe ihre Akte überprüft. Keine Drogen während dieser Zeit, und auch sonst
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