Das Boese in uns
warum sollte er das tun? Ich bezweifle, dass es eine persönliche Beziehung zu den Opfern gibt, also scheidet unmittelbare Rache aus. Es muss eine allgemeinere Grundlage geben. Rache in absentia? Sendet er eine Botschaft? Führt er den Willen Gottes aus?
»Was denn nun? Rettest du sie, oder schickst du sie in die Hölle? Sorgst du dich um ihre Seelen oder nicht?« Ich werfe den Block in hilfloser Wut vor mir auf den Schreibtisch.
Bin ich überhaupt auf der richtigen Fährte?
Ich denke darüber nach. Ja, ich bin auf der richtigen Fährte. Ich kann es aber nicht beweisen; es ist mehr ein Gefühl.
Er tötet sie nicht aus sexuellen Beweggründen. Er tötet sie, weil ihr Tod in religiöser Hinsicht von Bedeutung sind, und Sünde ist die Nabe, um die sich jedes religiöse Rad dreht.
Ich nehme den Block wieder an mich und kehre damit ins Wohnzimmer zurück. Ich starre auf das Papier, während ich nachdenke. Dann schreibe ich:
Er hat uns eine Frage gestellt: »Was sammle ich? Das ist die Frage, und diese Frage ist der Schlüssel.«
Ich glaube, ich kenne die Antwort, zumindest für den Augenblick, basierend auf den Informationen, die ich besitze und auf dem, was mein Bauchgefühl mir sagt.
Sünden. Er sammelt Sünden. Das ist die Viktimologie, die Frage der Beziehung zwischen Opfer und Täter. Das sind die Gemeinsamkeiten. Nicht die Haarfarbe oder die Körbchengröße oder das Geschlecht. Seine Opfer sind Sünderinnen (zumindest glaubt er das).
Ja ... ja, das fühlt sich richtig an. Es erzeugt eine Resonanz in mir. Die Stimmgabel in meinem Innern schwingt und verrät mir, dass ich den richtigen Ton getroffen habe. Eine Frage bleibt allerdings noch:
Glaubt er, dass er Sünder ihrer gerechten Bestrafung zuführt, oder schickt er die Erlösten, damit sie zur Rechten Gottes sitzen?
Die nächste Frage kommt ohne mein Zutun - die Wiederkehr des inneren Gemaules, das ich zu unterdrücken versucht habe.
Was ist mit deiner Sünde? Ist es eine Todsünde?
Oh ja, darauf kannst du wetten. Gut, dass ich nicht an Himmel und Hölle glaube.
Nicht wahr?
Stille. Gesegnete Stille.
»Gelobt sei Gott«, murmle ich mit allem Sarkasmus und aller Bitterkeit, die ich aufbringe.
Gott antwortet nicht, wie immer.
Eine Woge der Erschöpfung überrollt mich wie ein Laster, so schwer und mit solcher Wucht, dass meine Augenlider sich schließen, ohne dass ich es verhindern könnte. Der Notizblock gleitet mir aus den Fingern. Ich rolle mich auf dem Sofa zusammen, und dann zieht die Müdigkeit mich auch schon in die Dunkelheit hinunter.
Kapitel 15
Das Telefon reißt mich unsanft aus dem Schlaf. Ich fühle mich übernächtigt, verkatert, allerdings nicht als Folge des Alkohols vom Vorabend. Es ist mein Alter. Als ich Anfang zwanzig war, konnte ich eine oder zwei Nächte am Stück durchmachen, die dritte Nacht schlafen und erfrischt und wie neugeboren aufwachen. Heute dauert es Tage, bis ich wieder in der Spur bin. Der steife Hals verrät mir, dass das Schlafen auf der Couch nicht gerade hilfreich gewesen ist.
Ich richte mich stöhnend in eine sitzende Haltung auf. Vergangene Nacht war ich einsam - im Augenblick bin ich richtig froh, dass niemand da ist, der mich so sehen könnte. Ich dränge den Nebel in meinem Gehirn mittels schierer Willenskraft zurück und nehme das Gespräch an.
» Barrett?«
»Du klingst aber fröhlich, Schnuckelmaus.« »Wie spät ist es, Callie?«
»Halb neun morgens.« »Was? Verdammt!«
Ich springe auf und renne in die Küche, während ich das Telefon mit der Schulter gegen mein Ohr klemme. Ich habe gestern Abend vergessen, die Zeitschaltuhr für die Kaffeemaschine einzuschalten, also drücke ich jetzt auf den Knopf und warte darauf, dass der segensreiche braune Nektar zu fließen beginnt. Ich habe die Geduld eines Junkies, wenn es um den ersten Kaffee am Morgen geht. Bonnie wacht in der Regel vor mir auf, und das weiß sie; sie schenkt mir Kaffee ein, sobald sie hört, dass ich die Treppe herunterkomme.
»Ganz schön faul«, neckt mich Callie. »Zu lange zu viele akrobatische Stellungen ausprobiert, was?«
Sie meint es gut, doch ihre Frage bringt die Erinnerungen an den vergangenen Abend wieder hervor.
»Nein.«
Meine Antwort ist kurz und bündig, und das lässt sie stocken. »Hmmm ... kommen diese Depressionen durch einen Mangel an Koffein zustande, oder gibt es Probleme an der Heimatfront?«
»Beides, aber ich will jetzt nicht darüber reden. Was gibt's denn? Wo bist
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