Das Boese in uns
anstrengend sein.
Ich nehme den gelben Notizblock und den Stift vom Wohnzimmertisch. Der Block liegt dort wegen einem meiner Rituale. Spät nachts (wie beispielsweise jetzt), wenn ich alleine bin, ziehe ich die Füße unter den Leib und versuche, Ordnung in das Gewirr der Daten und Fakten des Falles zu bringen, an dem ich gerade arbeite.
Es hilft mir, mich zu konzentrieren, und hat im Lauf der Jahre zu einer ganzen Reihe nützlicher Eingebungen geführt. Außerdem ist es ein verdammt guter Talisman. In diesen Block zu kritzeln hilft mir, die Gedanken zurückzudrängen, die ich nicht haben will.
Was Morde angeht, gibt es eine Reihe von Axiomen, die ich im Lauf der Jahre entwickelt habe. Pragmatismen. Einsichten. Ich konzentriere mich darauf und schreibe sie nieder, um die Räder in ihren Lagern in Bewegung zu setzen und Tommy und die Geister zu vertreiben, die er mit sich bringt.
Das Opfer ist stets das Entscheidende. Selbst wenn es sich bei dem Mord um ein zufälliges Ereignis handelt, vergiss eines nicht - die Dinge, die wir einem Impuls folgend tun, sind häufig diejenigen, die am meisten über uns enthüllen.
Ein Killer hat mir einmal verraten, dass er seine Würgeopfer findet, indem er die erstbeste Frau nimmt, die Blickkontakt zu ihm herstellt. Ich wies ihn darauf hin, dass all diese Frauen aus irgendeinem Grund blond waren. Er dachte darüber nach, lachte und räumte ein, dass seine Mutter eine Blondine gewesen war. (»Mom war eine richtige Fotze«, fügte er hinzu, ohne dass ich gefragt hätte.)
Die Methode verrät uns, was ihn antreibt - oder was er uns glauben machen will.
Ein anderer Killer, den ich gefasst habe, schlug auf seine Opfer ein, bis sie keine Gesichter mehr hatten. Er war von einem dermaßen intensiven Hass getrieben, dass er dabei in eine Art Dämmerzustand fiel. »Ein paar Mal«, verriet er mir, »ein paar Mal weiß ich noch, wie ich angefangen habe, einer von den Huren die Fresse zu polieren, aber ich kann mich nicht erinnern, was passiert war, als es schließlich aufhörte, und das ist schade, weil es doch das Schönste an der Sache ist, die Gesichter zu zerschlagen.« Er bedauerte seine Filmrisse zutiefst.
Wahnsinn ist nicht das Gleiche wie Dummheit.
Die Wahrheit ist, sie alle sind auf ihre Weise wahnsinnig. Doch einige sind außerdem hochintelligent.
Sex als eine Komponente - oder das Fehlen davon -ist der Schlüssel zum Motiv.
Dieser letzte Punkt macht mich nachdenklich.
Beide Opfer, von denen wir bisher wissen - Lisa Reid und Rosemary Sonnenfeld - wurden ermordet, jedoch nicht sexuell missbraucht. Lisa war eine Transsexuelle, die kurz vor der Geschlechtsumwandlung stand, was für sich genommen auf eine sexuelle Komponente hindeutet. Rosemarys Vergangenheit weist ebenfalls auf Sex hin, und doch hat der Täter sie nicht missbraucht.
Ich kaue auf dem Stift, während ich überlege. Ich komme zur gleichen Schlussfolgerung wie zuvor.
Es geht für ihn nicht um Sex.
Das ist äußerst selten. Es geht fast immer um Sex. Diesmal nicht, sagt meine innere Stimme.
Okay, um was geht es dann? Die Opfer sind das Entscheidende. Was sind die Gemeinsamkeiten?
- Beide Opfer waren Frauen.
Ich streiche die letzte Zeile durch. Lisa Reid war keine Frau, noch nicht. Diese Unterscheidung mag ihr gegenüber unfair sein, aber für den Killer war sie von Bedeutung. Also ist es keine Gemeinsamkeit.
Dann such nach Gemeinsamkeiten bei der Methode.
• Beide Opfer wurden auf die gleiche Weise getötet. Ein spitzer Gegenstand wurde ihnen in schrägem Winkel in die rechte Körperseite und bis ins Herz gestoßen.
• Beiden Opfern hat der Killer durch die so entstandene Öffnung ein Kreuz in die Körperhöhle geschoben.
Ich überlege, was das Kreuz bedeuten könnte. Neben sexuellen Motiven und den verschiedenen Formen des Wahnsinns spielen religiöse Manien bei vielen Serienmorden eine tragende Rolle. Häufig sind es satanische Elemente, doch es gibt mehr als genug Beispiele, wo der Killer glaubt, seine Opfer zu erretten, indem er sich einbildet, für eine höhere Instanz zu arbeiten, für »Mächte des Lichts« und nicht für »Herrscher der Finsternis«.
Ist es das? Haben wir es hier mit einem Retter zu tun, der seine Opfer von irgendetwas erlösen will? Ich kritzle auf den Block:
Wovor rettet man jemanden?
Eine Antwort fällt mir ein:
Vor den Konsequenzen seiner Handlungen. Aus religiöser Sicht heißt
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