Das Boese in uns
sein und morden, und man kann arm sein und morden. Ein Messer ist ein Messer ist ein Messer. Kirchen sind mir nicht geheuer, am wenigsten die voller Gold und Prunk und Prachtentfaltung. Frömmigkeit hat in meinen Augen etwas mit Askese zu tun.
»Ich habe ihn angerufen und ihm gesagt, dass wir kommen«, sagt Alan. »Er erwartet uns.«
Ich betrete die Kirche und sehe auch das Innere mit neuen Augen und ausgeruhter Nase: Ich rieche Bleiche. Die Kirchenbänke sind aus Holz und abgenutzt. Der Boden ist Beton, nicht Marmor. Der Altar vorn ist klein. Christus hängt in seiner üblichen Position und blickt auf uns alle herab. Unser Erlöser muss dringend neu bemalt werden; an zahlreichen Stellen blättert die Farbe.
Sein Anblick lässt mich innerlich immer noch erzittern. Ich weiß nicht, ob ich noch an ihn glaube oder nicht, doch ich habe einmal an ihn geglaubt. An ihn und an die Jungfrau Maria. Ich habe zu beiden gebetet, habe sie angefleht, den Krebs meiner Mutter zu heilen. Mom starb trotzdem. Dieser Betrug war das Ende meiner Beziehung zu Gott. Wie kann er mir meine Sünden vergeben, wenn ich ihm nie verziehen habe, dass er meine Mutter sterben ließ?
Vater Yates sieht uns und kommt uns mit einem Lächeln entgegen.
»Agentin Barrett, Agent Washington«, begrüßt er uns.
»Hallo, Vater«, sage ich. »Ziemlich leer hier drin. Die Geschäfte gehen wohl schlecht heute?«
Ich winde mich innerlich. Ich bin offenbar nicht imstande, in diesem Gotteshaus meine Bitterkeit im Zaum zu halten. Alan sieht mich eigenartig von der Seite an. Vater Yates tut, als hätte er es nicht gesehen.
»Heutzutage ist jeder Tag ein schlechter Tag in der Erlöserkirche, Agentin Barrett. Wir retten keine Seelen am Fließband, verstehen Sie? Immer hübsch eine nach der anderen.«
»Verzeihung, Vater. Meine Bemerkung war unangebracht.«
Er winkt ab. »Sie sind immer noch wütend auf Gott, wenn ich das richtig sehe. Wenn er es aushalten kann - und das kann er, nehme ich an -, dann kann ich es auch. Nun, es gibt da jemanden, den Sie kennenlernen sollten. Agent Washington hat mir verraten, warum Sie gekommen sind. Die Frau, die ich Ihnen gleich vorstellen werde, ist die einzige Person, die mir eingefallen ist. Soweit ich weiß, war sie Rosemarys einzige Freundin. Rosemary hatte keine lebenden Angehörigen. Aber vielleicht kann Ihnen diese Person weiterhelfen.«
»Wieso?«
»Weil sie früher Polizeibeamtin war. Detective. In Ohio.« »Tatsächlich?«
»Ich schwöre.« Er lächelt - Priesterhumor. »Sie wartet in der Sakristei.«
Wie alles andere an dieser Kirche ist auch die Sakristei klein und sauber. Schlichte Regale bieten Platz für den Abendmahlskelch, wenn er nicht in Gebrauch ist, den Messwein und den Beutel mit den Oblaten.
»Sie werden von Nonnen gebacken«, hatte meine Mutter mir einmal auf meine diesbezügliche Frage hin geantwortet.
Ich war damals kein großer Fan von Nonnen, und die Oblaten mochte ich noch weniger. Sie hätten doch eine Belohnung darstellen müssen dafür, dass man den Ausdauertest der heiligen Messe überstanden hatte; stattdessen schmeckten sie wie Styro-por.
Ich sehe einen Schrank ohne Türen, weiß gestrichenes Holz. Vater Yates' Robe hängt darin.
Es gibt keinen Tisch in dem kleinen Raum, nur ein Fenster und drei arg mitgenommene Holzstühle. Auf einem sitzt eine Frau und wartet.
»Das ist Andrea«, sagt Vater Yates zu uns. »Andrea, das sind Agentin Smoky Barrett und Agent Alan Washington vom FBI.«
Sie nickt. Schweigt.
»Ich lasse Sie jetzt allein«, sagt Vater Yates und geht.
Ich betrachte Andrea. Sie ist von normaler Statur, nicht zu klein und nicht zu groß, und wiegt vielleicht sechzig Kilo. Ihr Gesicht wäre durchschnittlich, wären da nicht die Augen und die Haare. Die Haare sind lang und glänzend und so schwarz, dass sie blau schimmern. Die Augen sind groß und klar und womöglich noch dunkler als die Haare.
Es sind kluge Augen. Ich kann eine Andeutung von Cop darin erkennen. Ihr Blick ist offen, direkt, zurückhaltend, jene Mischung aus Widersprüchen, die sich nur bei Gesetzesbeamten findet - und bei kaltherzigen Kriminellen. Sie mustert meine Narben, ohne sich eine Reaktion anmerken zu lassen.
Sie trägt ein gelbes T-Shirt, das vielleicht eine halbe Nummer zu groß ist, dazu verwaschene Bluejeans und Tennisschuhe.
Ich strecke ihr die Hand entgegen.
»Erfreut Sie kennenzulernen, Andrea«, sage ich.
Ihr Händedruck ist kräftig und fester, als ich erwartet hätte. Ihre
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