Das Böse kommt auf leisen Sohlen
Sprung hinab zur Erde schien Jim eine Ewigkeit zu dauern. Will sprang ihm nach. Schockiert standen sie nebeneinander, erschüttert von lautlosen Gesten, hin und her gerissen von Ereignissen, die nur noch betäubender waren, weil sie sich in der Nacht, im Unbekannten verloren. Verwirrt und zitternd hielten sie sich aneinander fest und sahen den kleinen Schatten davonhuschen. Er wollte sie über die Wiesen locken. Jim fand zuerst die Sprache wieder.
"Will, wenn wir nur nach Hause gehen könnten! Wenn wir nur zum Essen gehen könnten! Aber jetzt ist's zu spät, jetzt haben wir's gesehen. Wir müssen noch mehr sehen! Oder nicht?"
"Herr im Himmel!" stöhnte Will verzweifelt. "Ich glaube schon."
Gemeinsam rannten sie los, hinter dem Unbekannten her, das wer weiß wohin führte.
Neunzehntes Kapitel
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Draußen auf der Landstraße waren gerade die letzten matten Farbtönungen der Sonne hinter den Bergen verschwunden. Das, was sie jagten, war ihnen so weit voraus, daß es im Lampenschein nur noch ein winziger Fleck war, im nächsten Augenblick schon rannte es frei in die Dunkelheit hinein.
"Achtundzwanzig!" keuchte Jim.
"Achtundzwanzigmal!" "Das Karussell, klar!" Will machte eine ruckartige Kopfbewegung.
"Achtundzwanzig hab ich gezählt, und es lief rückwärts." Vor ihnen hielt die winzige Gestalt an und blickte zurück. Jim und Will versteckten sich hinter einem Baum und warteten, bis es sich weiterbewegte.
"Es", dachte Will. Warum denke ich immer "Es"? Er ist ein Junge, er ist ein Mann... nein... es ist etwas anderes, Verändertes, deshalb denke ich immer "Es".
Sie erreichten die Stadtgrenze und rannten weiter.
Kurzatmig rief Will: "Jim, da müssen zwei auf dem Ding gewesen sein, Mr. Cooger und der Junge und..."
"Nein. Ich habe ihn nicht aus den Augen gelassen." Sie rannten an dem Friseurladen vorbei. Will sah ein Schild im Fenster und sah es doch wieder nicht. Er las es und las es doch nicht. Er erinnerte sich daran und vergaß es wieder. Er rannte weiter.
"He – er ist in die Culpepper Street abgebogen! Schnell!"
Sie bogen um eine Ecke.
"Er ist weg!"
Die Straße lag lang und leer im Licht der Straßenleuchten vor ihnen. Welke Blätter raschelten auf den Bürgersteigen, auf die mit Kreide Kästchen für Kinderspiele gemalt waren.
"Will, in der Straße wohnt Miss Foley."
"Weiß ich. Im vierten Haus, aber..."
Jim schlenderte gemächlich weiter, pfeifend, die Hände in den Hosentaschen. Will folgte ihm. Als sie an Miss Foleys Haus vorbeikamen, blickten sie hinauf.
An einem der erleuchteten vorderen Fenster stand jemand und blickte heraus.
Ein Junge. Nicht älter als zwölf Jahre.
"Will!" rief Jim halblaut. "Der Junge..."
"Ihr Neffe..."
"Neffe – Hölle! Schau nicht hin, vielleicht kann er von den Lippen ablesen. Geh langsam. Bis zur Ecke und wieder zurück. Siehst du sein Gesicht? Die Augen, Will! Die verändern sich bei einem Menschen nie, bei jung oder alt, sechs oder sechzig Jahre. Klar, ein Jungengesicht, aber die Augen waren die von Mr. Cooger."
"Nein!"
"Ja!"
Sie blieben beide stehen und genossen erregt das Herzklopfen des anderen.
"Los, weiter!" Sie gingen weiter. Jim hielt Will am Arm fest und führte ihn. "Du hast doch Mr. Coogers Augen gesehen, nicht? Wie er uns gepackt hat und die Köpfe zusammenstoßen wollte? Und du hast den Jungen gesehen, wie er von dem Karussell gestiegen ist? Er hat unter dem Baum gestanden und genau zu mir raufgeschaut – Junge! Das war, wie wenn man die Tür von nem Heizkessel aufmacht! Die Augen vergesse ich nie! Da sind sie wieder, die Augen, da in dem Fenster. Umkehren! Los, wir gehen ganz langsam und gemächlich wieder zurück. Wir müssen doch Miss Foley warnen, daß er sich in ihrem Haus versteckt, oder nicht?"
"Jim, dir ist's doch ganz egal, ob sich was in Miss Foleys Haus versteckt oder nicht."
Jim sagte nichts. Arm in Arm mit Will schlenderte er die Straße entlang, sah einmal zu seinem Freund hinüber, senkte die Lider über die grünen Augen und ging weiter.
Und wieder beschlich Will bei diesem Blick das Gefühl, das ihn an einen beinahe vergessenen Hund erinnerte. Irgendwann in jedem Jahr lief der Hund hinaus in die Welt, blieb tagelang weg und kam schließlich humpelnd zurück, zerzaust, zerbissen, stinkend und schlammbeschmiert; er hatte sich in den dreckigen Abfallhaufen der ganzen Welt gewälzt, um dann
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