Das Böse kommt auf leisen Sohlen
zuletzt, fast wie ein Schlafwandler, auf die summende und klingende Verlockung der Musik zuzumarschieren. Er konnte den Blick nicht abwenden.
Ein Schritt. Noch ein Schritt. Jim kam dem Karussell immer näher.
"Los, Will, hol ihn!" sagte Dad.
Will machte sich auf.
Jim hob die rechte Hand.
Die Messingpfosten huschten vorbei, in die Zukunft hinein. Sie dehnten das Fleisch wie Sirup, streckten die Knochen wie ein Sahnebonbon. Das sonnenfarbene Metall brannte auf Jims Wangen, glitzerte in seinen Augen.
Jim wollte zupacken. Die Messingpfosten stießen gegen seine Fingernägel und spielten eine eigene kleine Melodie.
"Jim!"
Die Messingpfosten blitzten vorbei wie ein Sonnenaufgang mitten in der Nacht.
Die Musik hob sich wie eine klare Wasserfontäne sprudelnd zum Himmel.
Eiiiiiiiiii...
Jim öffnete die Lippen und fiel in den Ton ein.
Eiiiiiiiiii...
"Jim!" schrie Will in vollem Lauf.
Jims Hand klatschte gegen einen Messingpfosten. Der Pfosten war schon vorbei.
Er packte einen zweiten Pfosten. Diesmal blieb seine Hand daran kleben.
Das Gelenk folgte den Fingern, der Arm dem Gelenk, Schulter und Körper folgten dem Arm. Jim wurde schlafwandelnd vom Boden hochgerissen.
"Jim!"
Will griff zu und spürte, wie ihm Jims Fuß entrissen wurde.
Jim schwang in weitem Kreis durch die winselnde
Nacht. Will rannte hinterher.
"Jim, laß los! Jim, laß mich doch nicht hier zurück!"
Von der Fliehkraft gepackt, hielt Jim sich mit einer Hand an dem Messingpfosten fest, flog herum und streckte wie in einem instinktiven letzten Einfall die freie Hand in den Wind, als kleinen Teil seiner selbst, der sich noch an ihre Freundschaft erinnerte.
"Jim – spring!"
Will griff nach dieser Hand, verfehlte sie, stolperte, fiel beinahe hin. Das erste Rennen war verloren. Einen Kreis mußte Jim allein beschreiben. Will wartete auf das nächste Vorbeistürmen der Pferde, das Vorbeifliegen des Jungen, der immer weniger Junge war...
"Jim! Jim!"
Jim wachte auf! Halb war er schon herum. In seinem Gesicht drückte sich jetzt Juli aus, jetzt Dezember. Er umklammerte den Pfosten und schrie seine Verzweiflung hinaus. Er wollte und er wollte auch nicht. Er wünschte es sich, er verwarf den Wunsch, wünschte es sich wieder, noch sehnlicher, während er im stickig-heißen Strom des Windes, begleitet vom blitzenden Metall, dahinflog, gezogen von den Juli-und Augustpferden, deren Hufe die Luft wie fallendes Obst trommelten. Seine Augen blitzten. Er biß sich auf die Zunge, sein Zwiespalt entlud sich in einem Zischen.
"Jim! Spring! Dad! Halt die Maschine an!"
Charles sah sich nach dem Schaltkasten um, fünfzehn, zwanzig Schritte entfernt.
"Jim!" Will hatte Seitenstechen. "Ich brauch dich! Komm zurück!"
Drüben auf der anderen Seite des wirbelnden Karussells kämpfte Jim gegen die eigenen Hände, den Pfosten, die sturmgepeitschte Fahrt durchs Nichts, die herabsinkende Nacht, die wirbelnden Sterne an. Er ließ den Pfosten los. Er packte ihn wieder. Dabei streckte er immer noch seine freie Hand aus und bettelte um Wills letztes Quentchen Kraft.
"Jim!"
Jim kam näher. Da unten auf dem nachtschwarzen Bahnhof, aus dem sein Zug für immer hinausfuhr in einen Wirbel von Konfetti, da sah er Will stehen. Will, Willy, William Halloway, den Jungen, seinen jungen Freund, der ihm am Ende dieser Reise noch jünger erscheinen würde, nicht nur jünger – auch fremd! Eine vage Erinnerung an eine längst vergangene Zeit, ein längst versunkenes Jahr. Aber nun lief dieser Junge, dieser junge Freund, der jüngere Freund, mit dem Zug, er reckte den Arm hoch – wollte er mitkommen? Oder war es eine Aufforderung zum Aussteigen? Was war es?
"Jim! Kennst du mich noch?"
Will setzte mit letzter Kraft zum Sprung an. Ihre Finger berührten sich. Ihre Hände berührten sich.
Jims Gesicht starrte weiß und kalt auf ihn herab.
Will trottete im Kreis um die sausende Maschine herum.
Wo war Dad? Warum schaltete er das Ding nicht aus?
Jims Hand fühlte sich warm, vertraut und gut an. Sie umklammerte seine Hand. Er stieß dabei einen Schrei aus.
"Jim! Bitte!"
Doch die Reise ging immer weiter und weiter. Jim flog dahin, Will wurde gewaltsam mitgezerrt.
"Bitte!"
Will zerrte. Jim zerrte. Julihitze schoß in Wills Hand, die Jim festhielt. Wie ein gefangenes Tier, liebevoll festgehalten von Jim, flog diese Hand, fuhr diese
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