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Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Titel: Das Böse kommt auf leisen Sohlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Jim erwischt!" 
    "Nein", murmelte Charles Halloway in seltsamem Ton. 
    "Vielleicht hat Jim – vielleicht haben wir – sie erwischt." 
    Sie gingen um das letzte Zelt herum. 
    Wind blies ihnen den Staub ins Gesicht. 
    Will schlug die Hände vors Gesicht, hielt sich die Nase zu. Der Staub war uraltes Gewürz, verbrannte Ahornblätter, ein prickelndes Blau, das langsam zu Boden schwebte. Der Staub legte sich wie ein eigener Schatten über die Zelte. 
    Charles Halloway nieste. Gestalten fuhren hoch und rannten von einem umgestürzten Gegenstand weg, der auf halbem Wege zwischen einem Zelt und dem Karussell verlassen auf dem Boden lag. 
    Es war der elektrische Stuhl, umgestürzt, die Gurte lose an Beinen und Armlehne baumelnd. Von der Lehne hing ein metallener Kopfhalter. 
    "Aber wo ist Mr. Elektriko?" fragte Will. "Ich meine – Mr. Cooger!" 
    "Das muß er gewesen sein." 
    "Was soll er gewesen sein?" 
    Doch die Antwort lag vor ihnen, sie senkte sich in quirlenden Luftwirbeln auf den Weg – das verbrannte Gewürz, der herbstliche Brandgeruch, der ihnen an der Zeltecke entgegenschlug. 
    Umbringen oder heilen, dachte Charles Halloway. Er stellte sich die Hast der letzten paar Sekunden vor, wie sie den uralten, staubigen Knochenhaufen in seinem nicht mehr angeschlossenen elektrischen Stuhl über das trockene Gras zerrten. Vielleicht nur einer von vielen Versuchen, das Leben zu schützen, zu retten, zu bewahren – in einem Gebilde, das nichts anderes mehr war als Friedhofsmüll, Rostflocken, ersterbende Glut, die kein Wind mehr anzufachen vermochte. Und doch mußten sie es versuchen. Wie oft waren sie in den letzten vierundzwanzig Stunden auf diese Weise losgerannt, um entsetzt wieder aufzugeben, weil schon die geringste Erschütterung, die leiseste Brise den uralten Cooger in Staub und Moder zu verwandeln drohte? Dann war es schon besser, ihn auf dem elektrischen Stuhl sitzen zu lassen, als bleibendes Schaustück, als nie endende Vorstellung für eine gaffende Masse, um es später wieder zu versuchen – jetzt zum Beispiel, wo die Lichter aus und die Leute gegangen waren, wo alles dunkel lag, bedroht war von einer Kugel, einem Lachen – jetzt brauchte man Cooger, wie er früher war, groß, rothaarig, bebend vor gewaltiger Zerstörungswut. Doch irgendwann, vor zwanzig, vor zehn Sekunden, bröckelte der letzte Leim ab, fiel der letzte Bolzen, der das Leben zusammenhielt; die mumienhafte Puppe, das groteske Standbild, löste sich in Staubwölkchen und welkes Novemberlaub auf, ein Hauch der Sterblichkeit im Wind. Mr. Cooger hatte die letzte Sense dahingerafft und in eine Milliarde Pergamentflocken, in ungezählte Stäubchen über das Gras verstreut. Nichts weiter als eine kleine Staubwolke in einem Speicher uralten Korns – aus, fort. 
    "O nein, nein, nein, nein!" murmelte jemand. 
    Charles Halloway berührte Wills Arm. 
    Will hörte sofort auf mit seinem "O nein, nein, nein". 
    In den letzten Augenblicken mußte er dasselbe denken wie sein Vater – an eine weggezerrte Leiche, an verstreutes Knochenmehl, an den Dünger, der auf das Gras der Hügel fiel... 
    Nichts war mehr übrig als der leere Stuhl und die letzten Staubpartikel, die letzten schimmernden Flocken eines eigenartigen Schmutzes an den Schnallen und Bändern. Die Mißgeburten, die den Staubhaufen herangeschleppt hatten, flohen nun in die Schatten. 
    Wir haben sie in die Flucht gejagt, dachte Will. Aber irgend etwas muß sie dazu gebracht haben, daß sie ihn fallen ließen. 
    Nein. Nicht irgend etwas – irgendwer. 
    Will sah sich um. 
    Das Karussell drehte sich leer und verlassen durch seine eigenen Zeitdimensionen vorwärts. 
    Aber zwischen dem umgestürzten Stuhl und dem Karussell stand jemand ganz allein – eins von den Ungeheuern? Nein... 
    "Jim!" 
    Dad stieß ihn mit dem Ellbogen an. Will hielt den Mund. 
    Jim, dachte er. 
    Und wo steckte jetzt Mr. Dark? 
    Irgendwo. Schließlich hatte er doch das Karussell in Gang gesetzt, oder etwa nicht? Doch! Um sie anzulocken, um Jim anzulocken. Weshalb denn sonst? 
    Dafür war jetzt keine Zeit, denn... 
    Jim wandte sich von dem umgestürzten Stuhl ab und ging langsam hinüber, wo er noch eine Freifahrt guthatte. 
    Er ging dahin, weil er wußte, immer schon gewußt hatte, daß er dorthin gehen mußte. Wie eine Wetterfahne im Sturm hatte er sich hierhin und dorthin gedreht, bei klarem Himmel und lauer Luft gezögert, um dann

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