Das Bourne-Vermächtnis
seinem schwarzen Haar und seinen dunklen Augen, seinem massigen Körper und dunklen Teint fühlte er sich wie ein Neandertaler unter Cro-Magnon-Menschen. Sina, das merkte er, hatte dieses Problem nicht. Sie ließ sich mit erschreckender Begeisterung auf neue Orte, neue Leute, neue Ideen ein. Er machte sich Sorgen um sie, war besorgt wegen ihres Einflusses auf die Kinder, die sie eines Tages haben würden.
Auch zwanzig Minuten nach dem Überfall hinter der Klinik Eurocenter Bio-I fragte Chan sich noch immer, ob er den Drang, Vergeltung an einem Feind zu üben, jemals stärker empfunden hatte. Obwohl er zahlenmäßig und an Feuerkraft unterlegen gewesen war, obwohl der rationale Teil seines Ichs, der normalerweise sein gesamtes Handeln bestimmte, sich vollkommen darüber im Klaren gewesen war, dass ein Gegenangriff auf die Männer, die Spalko entsandt hatte, um Jason Bourne und ihn entführen zu lassen, selbstmörderisch gewesen wäre, hatte ein anderer Teil seines Ichs sich sofort wehren wollen. Seltsamerweise war es Bournes Warnung gewesen, die in ihm den irrationalen Wunsch geweckt hatte, sich in den Kampf zu stürzen und Spalkos Männer in Stücke zu reißen. Dieser Drang tief aus seinem Inneren war so gewaltig, dass er seine gesamte rationale Willenskraft hatte aufbieten müssen, um den Rückzug anzutreten und sich vor den Männern zu verstecken, die ihn in Annaka Vadas’ Auftrag suchten.
Er hätte diese beiden erledigen können, aber was hätte das genützt? Annaka hätte nur weitere Männer mit Maschinenpistolen auf ihn angesetzt.
Chan saß im Café Grendel, das gut einen Kilometer von der Klinik entfernt lag, in der es jetzt von Polizisten und vermutlich auch von Interpol-Agenten wimmelte. Er trank mit kleinen Schlucken seinen doppelten Espresso und dachte über das Urgefühl nach, das ihn noch immer gepackt hielt. Dabei erinnerte er sich an Jason Bournes besorgten Gesichtsausdruck, als er gesehen hatte, dass Chan in die Falle zu geraten drohte, in die er bereits getappt war. Man hätte glauben können, Chan vor dieser Gefahr zu bewahren, sei ihm wichtiger gewesen als die eigene Sicherheit. Aber das war doch nicht möglich …?
Gewöhnlich war es nicht Chans Art, sich vor kurzem abgelaufene Ereignisse nochmals vorzustellen, aber diesmal tat er’s doch. Als Bourne mit Annaka zum Ausgang unterwegs gewesen war, hatte er versucht, Bourne vor ihr zu warnen, war aber zu spät gekommen. Was hatte ihn dazu veranlasst? Jedenfalls war das nicht geplant gewesen.
Seine Entscheidung war ganz spontan gefallen. Oder vielleicht doch nicht? Er merkte, dass er sich beunruhigend lebhaft an seine Empfindungen erinnerte, als er den Dachziegelverband gesehen und gemerkt hatte, wie
schwer er Bourne verletzt hatte. War das Reue gewesen?
Unmöglich!
Es war zum Verrücktwerden. Die Erinnerung an die
Sekunde, in der Bourne sich dazu entschlossen hatte, seinen sicheren Platz hinter dem tödlich gefährlichen McColl zu verlassen und sich so in Lebensgefahr zu bringen, um Annaka zu schützen, ließ ihn nicht mehr los. Bis zu diesem Augenblick hatte Chan fest geglaubt, der College-Professor David Webb sei zugleich als Auftragsmörder Jason Bourne in seiner Branche tätig. Aber ihm fiel kein Berufskiller ein, der sich selbst in Gefahr gebracht hätte, um Annaka zu schützen.
Wer war Jason Bourne also?
Er schüttelte über sich selbst irritiert den Kopf. Diese Frage musste vorerst hintangestellt werden, so ärgerlich sie auch sein mochte. Immerhin verstand er jetzt, weshalb Spalko ihn in Paris angerufen hatte. Er war auf die Probe gestellt worden – und hatte nach Spalkos Begriffen versagt. Spalko hielt Chan jetzt für eine unmittelbare Bedrohung, genau wie er Bourne für gefährlich hielt. Und für Chan war er jetzt der Feind. Mit Feinden war Chan sein Leben lang stets gleich verfahren: Er hatte sie liquidiert. Die damit verbundene Gefahr kannte er und schätzte sie sogar als Herausforderung. Spalko glaubte, er sei ihm überlegen. Woher hätte er auch wissen sollen, dass diese Arroganz Chans Hass nur noch schürte?
Chan leerte die kleine Tasse, klappte sein Handy auf und tippte eine Nummer ein.
»Ich wollte Sie gerade anrufen, aber ich wollte noch warten, bis ich aus dem Gebäude bin«, sagte Ethan Hearn. »Hier ist irgendwas los.«
Chan sah auf seine Armbanduhr. Noch nicht siebzehn Uhr. »Was genau?«
»Vor ungefähr zwanzig Minuten habe ich einen Notarztwagen kommen sehen und war rechtzeitig in der Tiefgarage, um
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