Das brennende Gewand
Achtung von dem großen und begabten Gelehrten und zeigte Erstaunen, als er ihr die Nachricht zukommen ließ, er sei ins Kloster gegangen. Ich selbst habe Ivo vom Spiegel erst kennengelernt, als er Jean bei uns abholte, und er schien mir ein finsterer Mann zu sein, zurückhaltend, fast kalt. Aber auch wenn er mich nie als Sohn behandelt hat, so bewunderte ich doch seine fundierten Kenntnisse, und unsere Dispute waren erbaulich und lehrreich. Er muss sich gewandelt haben, wenn eine Frau sein Herz erobern konnte.« Dann zwinkerte er plötzlich übermütig. »Oder Ihr, Frau Almut, habt ihn mit Eurem Zauber gewandelt?«
»Ich habe ihn hin und wieder amüsiert und sehr viel öfter verärgert.«
»Ah, verärgern kann man ihn also immer noch. Doch nun hat er sich nicht nur hinter seine eigenen geistigen Mauern, sondern auch hinter die ganz wirklichen einer Klause zurückgezogen. Und Ihr seid ein zweites Mal bemüht, ihn daraus wieder zu befreien?«
»Ich bin fest entschlossen.«
»Ich ebenfalls, Frau Almut. Schlagt ein, meinen Teil an diesem Handel will ich erfüllen. Sagt mir, was ich tun soll!«
Er reichte ihr seine Hand, und sie nahm sie dankbar an.
»Als Erstes, Leon, solltet Ihr Euren Großvater aufsuchen. Er ist krank geworden ob dieser Verwicklungen, und wir fürchten um sein Leben. Euer Anblick wird ihn aufheitern.«
»Ihr glaubt, er wird mich empfangen?«
»Ich bin sicher. Nur bedenkt eines: Er glaubt, Ivo vom Spiegel halte sich lediglich im Kloster auf, von der Einmauerung weiß er nichts.«
»Ich verstehe.«
»Des Weiteren solltet Ihr Euch das Vergnügen gönnen, zusammen mit mir Aziza aufzusuchen.«
»Ihr habt tatsächlich eine bezaubernde Art, einem Pflichten zu versüßen. Wann, wohledle Frau Almut, wollen wir die schöne Maurin besuchen?«
»Morgen, zur Terz.«
Almut stand auf und ging zur Tür. Leon erhob sich ebenfalls.
»Schickt der Meisterin ein Fässchen Wein, Leon, es wäre besser, wenn es so aussähe, als hätten wir geschäftliche Verhandlungen geführt.«
»Selbstverständlich.«
Während sie Leon über den Hof zum Tor begleitete, fachsimpelten sie eingehend über die Qualität der burgundischen Weine.
22. Kapitel
Die flüsternde Stimme an dem kleinen Fensterchen war zwar schon lange verklungen, die abendlichen Geräusche verstummt und die Dunkelheit in die enge Klause gekrochen, aber Pater Ivo konnte sie noch immer hören. Aufs Neue sträubten sich die Härchen auf seinen Armen, wenn er an die zischelnden Worte dachte, die wie ätzendes Gift in seinen schützenden Hort geträufelt worden waren. Die Mächte des Teufels, gegen die anzukämpfen er versprochen hatte, waren in einer völlig unerwarteten Form über ihn gekommen. Es war nicht das finstere Blendwerk, mit dem die Priester ihre Schäfchen verschreckten, diese Schimäre aus schlechtem Gewissen, Scham und Todesangst. Es war eine vollkommen reale Person, und genau wie er es vermutet hatte, war sie aus seiner Vergangenheit emporgestiegen wie der nach Verwesung stinkende Schleim einer verrotteten Leiche aus dem Moor.
Ihm war kalt, und er fühlte sich elend. Elender, als er je geglaubt hatte, dass er sich fühlen könnte. Selbst in den Kerkern der Inquisition hatte er sich nicht so gedemütigt gefühlt, so vernichtet.
Die, die sich an ihm rächen wollten, hatten ihr Ziel gründlich erreicht.
Er stützte die Ellenbogen auf seine Knie und barg sein Gesicht in den Händen. Verzweiflung warf ihr schwarzes Netz über ihn und zog sich fester und fester um sein gepeinigtes Herz.
Angelockt von den Brotkrumen landete ein Vögelchen auf dem Sims. Nur ein leises Flattern, ein winziges Kratzen von kleinen Krallen auf den Ziegeln kündete die Besucherin an. Pater Ivo bemerkte sie nicht, doch ein mitleidiger Geist berührte zart ihr Herz, und mit einem Blick auf die goldene Mariengestalt, die auf dem weißen Linnen der Altardecke matt schimmerte, stimmte die Sängerin das Klagelied der Mutter an, die ihre verlorenen Kinder suchte.
Sie sang lange, mit Inbrunst, schluchzend und schlagend, aus voller Kehle und in zahllosen melodischen Variationen. So lange, bis endlich der Verzweifelte seine Hände sinken ließ und das kleine Wunder an seiner Klause wahrnahm. Einen letzten Triller, eine letzte, sanft geflötete Tonfolge schenkte die in ihr bescheidenes braunes Federkleid gehüllte Nachtigall ihm noch, dann flog sie fort.
Er schaute ihr nach, und wie von selbst stahlen sich die vertrauten Worte über seine Lippen: »Salve Regina, Mater
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