Das Britische Empire: Geschichte eines Weltreichs (German Edition)
19. Jahrhunderts – im Vergleich zu vorangegangenen Epochen – der Stellenwert des Empire im öffentlichen politischen Bewußtsein Großbritanniens. Man erblickte in ihm nicht nur die Basis für die gegenwärtige Weltmachtposition, sondern diskutierte Möglichkeiten und Formen, wie das Machtpotential dieses Überseereichs bei künftigen Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Mächten eingesetzt werden könne. Denn nachdem die europäischen Kolonialreiche um 1830 zusammengenommen kleiner gewesen waren als im frühen 17. Jahrhundert, setzte nun ein letzter spektakulärer Schub in der Expansion Europas ein, in dessen Verlauf nahezu der gesamte Globus der direkten Herrschaft oder zumindest dem indirekten Einfluß europäischer Mächte (bzw. der USA) unterworfen wurde.
Vor diesem Hintergrund sahen aufmerksame britische Zeitgenossen die bis dahin ungefährdete Vormachtstellung ihres Empire bedroht oder zumindest in Frage gestellt. So erregte 1870 der renommierte Historiker James A. Froude mit einem Artikel in der Zeitschrift Frazer’s Magazine Aufsehen, in dem er auf die Notwendigkeit einer allgemeinen Konsolidierung des Empire hingewiesen hatte; nur dadurch werde sich England im drohenden Wettstreit mit aufstrebenden Mächten wie Rußland, den USA und Deutschland behaupten können. Und ein Jahrzehnt später erreichte der innerenglische Diskurs um die Zukunft des Empire mit den Vorlesungen des Historikers John Robert Seeley über Die Ausbreitung Englands[ 29 ] einen neuen Höhepunkt, in denen er eine historische Analyse der überseeischen Expansion mit Vorschlägen für die künftige Organisation des Empire verknüpfte. Von Seeley stammt der berühmte Satz, England habe sein überseeisches Reich in einem Anfall von Geistesabwesenheit («in a fit of absentmindedness») erworben, d.h. ohne politische Strategie und Konzeption. Nun allerdings, vor allem angesichts der bedrohlich wachsenden Macht Rußlands und der USA, sei es für England dringend geboten, den Verbund mit seinen überseeischen Reichsteilen zu intensivieren. Dabei standen für Seeley die englischen Siedlungskolonien im Vordergrund, durch die eine «Ausbreitung Englands» stattgefunden habe: Nicht in der Herrschaft über fremde Völker, sondern im engeren Zusammenschluß mit denjenigen, die ohnehin eine gemeinsame Nationalität verbinde, müsse England als Empire in der Zukunft bestehen. Zu diesem Zweck empfahl er, eine Organisation zu schaffen, mit deren Hilfe im Falle eines Krieges das gesamte Potential des Empire möglichst effektiv eingesetzt werden könne. Andere, wie der Politiker Alfred Milner oder der Dichter Rudyard Kipling, fügten dem hinzu, daß die Kraft Großbritanniens gerade durch die ‹Younger Nations› (die Dominions) aufgefrischt werden könne, durch «Männer die schießen und reiten können».[ 30 ]
Dergleichen Visionen blieben nicht auf den theoretischen Diskurs beschränkt, sondern fanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch Eingang in die praktische Politik. So lieferte am 24. Januar 1872 der Parteiführer der Konservativen, Benjamin Disraeli, in einer programmatischen Rede auf einer Parteiversammlung im Crystal Palace in London den Anstoß für eine britische Empire-Politik, die mehr sein sollte als das bloße Reagieren auf Ereignisse an der Peripherie, auf Initiativen der Handlungsträger vor Ort. In scharfer Polemik gegen die buchhalterische, Gewinn und Verlust gegeneinander aufrechnende Empirekonzeption der Liberalen entwickelte er seine imperiale Vision und plädierte für «eine großangelegte Politik zur Konsolidierung des Empire». Denn die jetzige Generation sehe sich vor die Frage gestellt, ob sich England damit begnügen solle, ein Staat unter anderen zu sein, «oder ob Ihr ein großes Land sein wollt – ein Imperium – ein Land, wo Eure Söhne, wenn sie aufsteigen, in Führungspositionen aufsteigen, mit denen sie nicht nur die Wertschätzung ihrer Landsleute erwerben, sondern herausragendes Ansehen in der ganzen Welt».[ 31 ]
Disraeli ging es bei dieser Rede weniger um eine neue Empire-Politik, als vielmehr darum, seine Partei als den Anwalt eines umfassenden nationalen Interesses zu präsentieren, das sich nicht auf den Inselstaat beschränkte, sondern das gesamte Empire mit einschloß. Dies gelang weitgehend. Selbst wenn in Zukunft ein Flügel der liberalen Partei – die sogenannten liberal imperialists – ebenfalls für die Ausdehnung und den Ausbau des Empire eintrat, waren es in erster Linie konservative
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