Das Buch aus Blut und Schatten
jemandem zu suchen, der mehr über den Golem wusste, als wir in Büchern finden konnten, geheimes Wissen, das von Generation zu Generation weitergereicht worden war, in Form von Legenden oder Gutenachtgeschichten. Doch sobald wir die Kaprova überquert hatten, die StraÃe, die die Staré M Ä sto von Josefov trennte, wurde uns klar, dass wir einen Fehler gemacht hatten. Das hier war vielleicht mal ein Wohnviertel gewesen. Jetzt nicht mehr. Nach dem, was ich erkennen konnte, war es so etwas wie ein Spielplatz für Unmengen von Touristen, deren Kleinkinder ausgestopfte Golem-Figuren in der Hand hielten, während ihre Eltern sie von einer tadellos renovierten Synagoge zur nächsten zerrten und zwischendurch kurz haltmachten, um eine Postkarte oder Kerzen zu kaufen oder der Prada-Boutique ein Stück die StraÃe hinunter einen schnellen Besuch abzustatten.
In bunten Broschüren, die an jedem Gebäude aushingen, standen die Zeiten für die Morgengebete und die Vorschriften für Trauernde, die für ein Kaddisch Zugang zu einem Friedhof haben wollten. Irgendwo, verborgen vor den Touristenhorden, gab es tatsächlich Menschen, die hier lebten, arbeiteten, beteten. Auf einer der Gedenktafeln, an denen wir bei unserer Odyssee durch die Synagogen vorbeikamen, stand, dass die Nazis überall in Europa die jüdischen Ghettos dem Erdboden gleichgemacht und geplündert hatten. Nur dieses hier hatten sie weitgehend unversehrt gelassen und dabei nicht nur die Bausubstanz erhalten, sondern beschlagnahmte und zurückgelassene jüdische Kunstgegenstände hierher bringen lassen. Der Gedanke dahinter war, dass Prags jüdisches Viertel nach erfolgter »Endlösung« und der Befreiung Europas von seiner sogenannten »Plage« als Museum für die ausgerotteten Juden dienen sollte, das architektonische Ãquivalent eines Dinosaurierskeletts oder Neandertalers aus Wachs. Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, hätte das Ergebnis sicher nicht viel anders ausgesehen als das hier.
Rabbi Löw â und sämtliche anderen Prager Juden, die zwischen 1439 und 1787 gestorben waren â war im alten jüdischen Friedhof begraben, ein kleines Stückchen Land mit unzähligen Grabsteinen und Unkraut, das man nur durch die Pinkas-Synagoge betreten konnte. Die im 16. Jahrhundert an der Stelle eines zerstörten deutschen Sakralbaus im gotischen Stil errichtete Synagoge war in eine Gedenkstätte für die Kinder von Theresienstadt umgewandelt worden. In das Konzentrationslager am Stadtrand von Prag waren während des Kriegs über fünfzehntausend Kinder gebracht worden; nur einhundertzweiunddreiÃig hatten es lebend verlassen.
Ich war erst ein paar Schritte hinter der Tür der Synagoge, als mich eine von Gicht verkrümmte Hand an der Schulter packte. Ich erstarrte und wäre um ein Haar an meinem stummen Schrei erstickt. Fingernägel gruben sich schmerzhaft in meinen Arm. Als Nächstes kam bestimmt das Messer, in meinen Rücken oder quer über meine Kehle. Blut würde auf den uralten Boden spritzen und die Touristen würden alles fotografieren, um damit das Fotobuch über ihren Urlaub in Prag aufzupeppen: Mädchen stolpert, Mädchen stürzt, Mädchen blutet.
Ich fragte mich, ob es wehtun würde.
»Deine Freunde«, sagte eine krächzende Stimme. Ich erwachte aus meiner Starre und riss mich los. »Für ihre Köpfe.«
Ich wirbelte herum. Der Mann, der mich gepackt hatte, war alt und gebeugt und konnte selbst dann nicht viel gröÃer als eins fünfzig sein, wenn er sich aufrecht hinstellte. In der Hand hielt er einen Korb mit Kopfbedeckungen aus Papier. »Männer können ohne nicht rein«, informierte er mich.
Sämtliche Luft entwich aus meinen Lungen und jetzt hätte ich vor lauter Erleichterung fast doch noch geschrien. Stattdessen nahm ich zwei der kleinen weiÃen Käppchen, drückte sie Max und Eli in die Hand und schärfte mir ein, nicht zu vergessen, dass Schlechtes auch bei Tageslicht geschah.
Wir betraten die ehemalige Synagoge mit einer Horde deutscher Teenager, deren Lehrer Befehle blafften, während die Jugendlichen so taten, als würden sie statt der SMS auf ihren Handys die Namen an den Wänden lesen. Max und Adriane schoben sich durch die Menge hindurch auf den Friedhof, wo Löws gewaltiges Grabmal auf uns wartete. Doch ich blieb noch für einen Moment in der Gedenkstätte und sah
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