Das Buch aus Blut und Schatten
mir die Kinderzeichnungen an, die von den jungen Häftlingen in Theresienstadt stammten. Einige der Kinder waren wirklich begabt gewesen, andere hatten Bäume gezeichnet, die wie Lutscher aussahen, und Strichmännchen mit dicken, runden Köpfen. Die meisten Zeichnungen hätten überall hängen können â an einer Wand im Kindergarten oder an einem Kühlschrank â, sie zeigten Unterwasserlandschaften mit tropischen Fischen, einen riesigen Tintenfisch, einen Drachen, der vor einer Zauberin mit goldenen Haaren stand, ein Haus in den Bergen, alles total süÃ, bis man die Plaketten neben den Bildern las, auf denen Geburts- und Todesdaten standen, die meist nicht mehr als zehn Jahre auseinanderlagen. Dann war es schwer, sich die gedrungenen Häuser in Rot und Blau nicht als Traum einer schöneren Kindheit, den Drachen nicht als Nazikommandanten vorzustellen. Es war schwer, die Albträume zu übersehen, die ein Bild nach dem anderen zeigte, die schwarze Lokomotive, die ihre Dampfwolken in eine schwärzere Nacht schickten, die Schienen, die direkt nach Theresienstadt führten.
Ich fragte mich, wie viele der Kinder da bereits ihre Eltern verloren hatten.
Ich fragte mich, ob meine Eltern dachten, sie hätten mich verloren.
Und was es aus ihnen machen würde, wenn es so wäre.
»Du zitterst ja«, sagte Eli. Als ich seine Stimme hörte, zuckte ich zusammen. Ich hatte ganz vergessen, dass er da war.
»Nein, tu ich nicht.« Doch, ich zitterte.
Der Holocaust war bei uns Unterrichtsthema gewesen, genau wie die spanischen Eroberer, die Azteken, die Emanzipations-Proklamation Abraham Lincolns und die Pilger, die Chapman gegründet hatten. Das schien alles weit weg und unwirklich. Dieses Gebäude war fünfhundert Jahre alt, es stand in einer StraÃe, dessen Pflaster vor fünfhundert Jahren gelegt worden war, in einer Stadt, die im neunten Jahrhundert entstanden war. Siebzig Jahre waren gar nichts; siebzig Jahre waren gestern gewesen. Vor siebzig Jahren war diese Synagoge eine Synagoge gewesen, mit Rabbis und Gottesdiensten und gelangweilten Kindern, die hin und her liefen, an steifen Krägen zupften und sich nach drauÃen schlichen, wo sie sich ihre feinen Sabbat-Kleider schmutzig machten. Kinder, die jetzt um die achtzig Jahre alt waren. Oder tot. Die Synagoge war wunderschön, mit Buntglasfenstern und Gewölbedecken. Man musste Gott schon sehr lieben, um einen Ort wie diesen zu bauen, nur weil man Ihm huldigen wollte. Und das hatten sie jetzt davon, dachte ich. Es war einfacher, an keinen Gott zu glauben als an einen, der einen nicht zurückliebte.
»Lass uns nach drauÃen gehen«, sagte ich. Auf dem alten Friedhof waren hunderttausend Tote begraben, mehr als jene, deren Namen zum Gedenken an die Wände der Pinkas-Synagoge geschrieben worden waren. Aber mit Friedhöfen kannte ich mich wenigstens aus.
24 DrauÃen an der frischen Luft konnte ich wieder atmen. Die hohe Mauer um den Friedhof war von tiefen Rissen durchzogen, deren verschlungene Muster wie Graffiti wirkten. Er sah ganz anders aus als die Friedhöfe, die ich kannte, mit ihren ordentlichen Reihen aus glänzenden Grabsteinen. Hier standen die verwitterten, bröckelnden Grabsteine, deren Inschriften fast völlig verschwunden waren, dicht an dicht und bedrohlich schief. Einige Gruppen aus drei, manchmal sogar vier Steinen stützten sich gegenseitig, als hätte sich die Erde unter ihnen verschoben, damit sie in gegenseitiger Nähe Trost finden konnten.
Die Deutschen liefen immer noch in der Synagoge herum, sodass wir fast allein waren, während sich der Morgennebel auf die Gräber und die in mehreren Schichten begrabenen Toten legte. Max und Adriane standen in der Nähe des gröÃten Grabmals auf dem Friedhof und sahen zu, wie eine ärmlich gekleidete Alte mit einem kleinen Zweig das Moos von dem Stein schrubbte.
»Wo warst du denn?«, flüsterte Adriane.
»Wir dachten, sie wüsste vielleicht etwas«, meinte Max. »Aberâ¦Â« Sein Blick ging zu Eli.
»Aber dann ist euch klar geworden, dass ihr mich braucht?«, erwiderte Eli. »Oh Graus.«
»Glaubt ihr, sie macht das für umsonst?«, wunderte ich mich, während ich der Frau zusah. Aus dieser Entfernung sah sie mit ihrem weiten, geblümten Hängerkleid und den Schuhen, die eine verblüffende Ãhnlichkeit mit Hausschuhen hatten, wie eine typische GroÃmutter
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