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Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Wasserman
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Ich konnte nirgendwo bleiben, wo sie mich finden würden. Sie konnten mich überall finden.
    Und deshalb verschwand ich.
    19 Der Himmel hatte keine Farbe mehr. Nebel hüllte die Stadt ein; Kirchtürme lösten sich in dem rauchgrauen Vorhang auf. Das Kopfsteinpflaster schimmerte regennass. Ich ging ohne Ziel, meine Schuhe rutschten über feuchten Stein. Dicke Regentropfen platschten auf Heilige, Uhren, gebeugte Schultern, zerknittertes Papier und Fleischspieße. Trotzdem auf jedem Turm grelle Blitze, Kameras, die wie Leuchtkäfer aussahen, Touristen, die zusahen, wie der Regen fiel und die Stadt unter ihnen vorbeizog.
    In Prag gab es immer jemanden, der einen beobachtete.
    Mein Vater hatte mir einmal erklärt, was ein Palimpset war – dass vom Alter fleckige Manuskripte immer wieder neu beschrieben worden waren, die Schrift einer Schicht lugte unter einer anderen hervor und darunter war dann noch eine andere. Nichts wird je ausradiert, hatte er gesagt, kurz bevor genau das mit Andy passiert war. Es gibt immer Spuren, es gibt immer Hinweise.
    Das war Prag: ein Palimpset. Vergangene Epochen wie Zwiebelhäute, eine auf der anderen, Postkommunismus auf Kommunismus auf Art nouveau auf Barock auf Renaissance auf spätem Mittelalter auf frühem Mittelalter bis hin zu den Anfängen, den wütenden Böhmen und ihrer Kriegerkönigin. Graffiti, die auf gotische Kirchen gesprüht wurden, kubistische Fassaden an Renaissance-Palazzi, Lady-Gaga-Tracks aus winzigen Lautsprechern am Eingang zu einem Geschäft in einem Barockbau, in dem es Marionetten im Stil des 19. Jahrhunderts zu kaufen gab, die vermutlich in China hergestellt worden waren. Die Stadt wirkte wie von Picasso gemalt, nur Nasen und Ellbogen und Stirnen, die in den wildesten Winkeln irgendwo herausragten, eine Schicht Ölfarben auf Zeitungspapier auf Leinwand, wunderschön und Angst einflößend zugleich.
    Es waren nicht nur die Gebäude, es waren auch die Leute. Die Geschichte lief hier zu schnell ab, sie brach über die Stadt herein wie Hochwasser und zog sich dann Tag für Tag wieder ein Stück zurück, wobei jede Welle charakteristische Überbleibsel zurückließ: die Nazis, die Sowjets, der Westen. Man geht in einer Stadt schlafen und wacht in einer anderen wieder auf, obwohl man im selben Bett liegt, im selben Haus wohnt, aber mit neuen Gesetzen, neuen Uniformen, einem neuen Tag vor dem Fenster. Die alten Männer, die ihre Enkel auf den Schultern trugen, die vom Alter gebeugten Frauen, die die Eintrittskarten abrissen, sie waren Kinder gewesen in einer Stadt, die sich selbst ausspioniert hatte. Sie hatten sich vor der Geheimpolizei versteckt, hatten ihre Arbeit verloren, wenn sie ihre Meinung sagten oder von jemandem angeschwärzt wurden, sie waren verhört worden, sie waren weggesperrt worden, sie hatten sich in abgedunkelten Räumen versteckt, um im Radio nach illegalen Sendungen zu suchen, sie hatten auf den Straßen getanzt, als Panzer vorbeigerollt waren, sie hatten russisch gesprochen und den Geschmack davon auf ihrer Zunge gehasst, sie waren davon ausgegangen, dass jeder Tag wie der nächste sein würde … bis er es eines Tages nicht mehr war. Diese Männer, diese Frauen, beneideten sie die Generation jener eigensinnigen Amnesiekranken, die in den Kapitalismus, in die Freiheit, in den Überfluss hineingeboren worden war und lieber glaubte, dass das Leben schon immer so gewesen war? Es war so einfach, es sich vorzustellen, denn das hätte ich mir auch für mich gewünscht. Die Fähigkeit zu vergessen. Von jeder neuen Flut mitgerissen zu werden, ein neuer Anfang, kein Gestern, kein Morgen. Die verschiedenen Schichten konnte man nicht ausradieren, man konnte nur versuchen, sie zu ignorieren.
    Als ich die Hände in die Jackentasche steckte, um sie zu wärmen, fanden meine Finger ein Stück Papier. Warte auf mich , stand darauf, in Max’ Handschrift. Ich verstand es nicht. Ich ließ den Zettel in den Rinnstein fallen und sah zu, wie sich seine Worte im Regen auflösten.
    Die Zeit verging, der Regen fiel, ich ging weiter. Ich hatte kein Ziel. Ohne es zu wollen, fand ich den Weg zum Friedhof.
    Der Friedhof war schon geschlossen und duckte sich hinter den Steinmauern vor der Dämmerung, doch es war ein tröstliches Gefühl zu wissen, dass er dort war, mit seinen verwitterten Grabsteinen und den leise seufzenden Bäumen, nur wenige Meter von mir

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