Das Buch aus Blut und Schatten
entfernt. Ich saà im Schneidersitz auf dem nassen Boden, den Rücken an den kalten Stein gelehnt, und lauschte auf ein Lied oder ein Gebet, das vielleicht aus dem Abendgottesdienst zu mir herüberdrang, doch ich hörte nur Glocken in weit entfernten Kirchtürmen, die die volle Stunde schlugen. Ich war noch am Leben. Ich saà da und sah zu, wie der Himmel immer dunkler wurde, ohne zu wissen, warum ich das tat. Vielleicht wartete ich auf ihn.
Und dort fand er mich dann.
20 »Du wolltest wissen, ob es mir leidtut«, sagte Eli.
Ich wusste nicht, warum ich nicht wegrannte. Stattdessen lieà ich zu, dass er sich neben mich auf den Boden setzte. Ich wollte ihn nicht ansehen, riskierte aber einen schnellen Blick zur Seite. Er hatte eine Mullbinde um seine linke Hand gewickelt und verzog vor Schmerz das Gesicht, als er sein rechtes Bein belastete. Schusswunden konnte ich keine sehen.
»Es tut mir leid.«
»Du bist mir gefolgt. Schon wieder.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte mir, dass du hier sein würdest. Du stehst irgendwie auf Friedhöfe.«
Es war das Schlimmste, was er sagen konnte. Als würde er in meinem Kopf stecken, als würde er dort zu den Orten kriechen, die ich für sicher gehalten hatte.
»Nein«, meinte er. »Das ist der sechste oder siebte Ort, an dem ich nach dir gesucht habe. Es war Glück.«
Ich fragte mich, was er auf meinem Gesicht gesehen hatte, warum er es wusste.
»Solltest du mich jetzt nicht besser davor warnen zu schreien?«, sagte ich.
»Du hast nichts von mir zu befürchten.«
Ich lachte gezwungen.
»Hast du den Teil verpasst, in dem ich dir das Leben gerettet habe?«
Ich ignorierte ihn. Da die Museen der Synagogen schon geschlossen hatten, waren die Menschenmassen aus Josefov verschwunden. Der Regen hatte nachgelassen, doch die leere StraÃe war fast dunkel. Es konnte noch nicht später als sechs oder sieben Uhr sein, doch ich hatte das Gefühl, als wäre es mitten in der Nacht.
»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. »Ich wollte nichtâ¦Â« Er brach ab und vergrub den Kopf in den Händen. Sie zitterten. Doch als er den Kopf wieder hob, verriet sein Gesicht nichts. »Würdest du mir zuhören? Keine Geheimnisse mehr. Ich werde dir jede Frage beantworten. Aber zuerst musst du mich anhören.«
»Die Wahrheit«, sagte ich, das Wort ein Witz.
»Die Wahrheit«, sagte er, als würde er es tatsächlich so meinen.
Vermutlich noch mehr Lügen, dachte ich, und davon hatte ich genug. Und wenn es keine Lügen waren?
»Also. Rede.«
»Es war nicht alles gelogen«, begann er. »Alles, was ich dir von meiner Familie erzählt habe, wie ich aufgewachsen bin, das stimmt alles. Meine Eltern sind Tschechen â aber sie sind auch Fidei . Wie ihre Eltern vor ihnen und deren Eltern vor ihnen. Und so weiter. Wir werden für den Eid und für das Schwert geboren. Daran glauben sie und das haben sie mich gelehrt. Absoluter Glaube, absoluter Gehorsam. Die Kirche hat sich schon vor Jahrhunderten von den Fidei distanziert. Sie konnten nur überleben, weil sie ein hohes Maà an Disziplin verlangten. Man tut, was einem befohlen wird. Man stellt keine Fragen. So wie meine Eltern keine Fragen gestellt haben, als sie von den Fidei nach Amerika geschickt wurden.«
»Sie haben nur Befehle befolgt«, murmelte ich.
»So ist das nicht. Die Fidei Defensor haben geschworen, ihr Leben damit zu verbringen, die Seele der Welt zu schützen. Sie glauben wirklich daran, dass das Lumen Dei uns alle zerstören könnte. Ob nun dadurch, dass wir damit den Zorn Gottes auf uns ziehen, weil wir die Grenzen der Menschen überschreiten, oder indem wir uns alle in die Luft sprengen, wenn Leute wie die Hleda Ä i an den Hebel kommen. Sie werden alles tun, um es aufzuhalten.«
»Selbst wenn sie dazu irgendwelche amerikanischen Teenager erschieÃen müssen.«
Eli erstarrte. »Ich hab dir erzählt, dass ich es verstehe, wenn jemand ein normales Leben haben will. Meine Eltern haben nur so getan, als wären sie normal, um nicht aufzufallen. Aber ich wollte es. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr. College, ein Leben, alles. Und dieses Jahr habe ich sie endlich überreden können. Ich habe aufgehört. Ich habe Leute kennengelernt, denen ihr Schicksal nicht schon im 17. Jahrhundert verpasst worden ist. Leute, die ferngesehen haben und sich betrunken
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