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Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Wasserman
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Dir, als ob Du mich noch hören könntest, weil die Briefe an Dich zur Nahrung für mich geworden sind und meine Hand auf dem Papier fortfährt, obwohl meine Seele um die Sinnlosigkeit meines Unterfangens weiß. Du bist der Einzige, der hinter meine Worte geblickt und das gesehen hat, was echt ist. Nun, da ich Dich verloren habe, frage ich mich, ob ich auch das Wenige verloren habe, das von mir noch übrig ist.
    Du warst schon immer so zerbrechlich, doch es schien, als würdest Du alles überstehen, weil es nicht anders ging. Wir sind unser ganzes Leben lang miteinander verbunden gewesen und jetzt, da diese Verbindung getrennt wurde, schwebe ich ohne Ziel umher. Ich sollte fortschweben, doch ich versinke.
    Du hast Prag in dieser Jahreszeit immer so geliebt, das Eis auf der Moldau, Kinder, die durch den Schnee stolpern und tanzen, wie wir früher. Du hast mir versprochen, dass Du zurückkommen und mit mir zusammen über die Steinbrücke gehen wirst. Das ist das erste Versprechen, das Du gebrochen hast.
    Du bist jetzt bei Gott und Er wird Dich reich entlohnen, so sagt unsere Mutter. Dieser Glaube schützt sie. Doch ich habe keinen Glauben mehr, um mich zu trösten, und kein Vertrauen darauf, dass Gott Dich im Tod besser entlohnen wird als Er das im Leben getan hat.
    Ich muss oft an unsere erste gemeinsame Reise denken, als wir, kaum alt genug, um es verstehen zu können, unserer Heimat entrissen und nach Böhmen gebracht wurden, mit einem neuen Vater, der uns mit seinem dunklen Mantel und seinen schwarzen Augen große Angst einjagte. Du erinnerst Dich sicher nicht mehr daran, doch ich werde nie vergessen, wie wir des Nachts vor Erfurt unser Lager aufschlugen, Du am Feuer Dein und mein Blut vergossen und geschworen hast, mich stets zu beschützen. Mit heißem, klebrigem Blut zwischen unseren Handflächen hast Du geschworen, dass Du mich nie verlassen wirst.
    Mein Bruder, fast alles kann ich Dir vergeben. Doch dies kann ich Dir nicht vergeben.
    Prag, 23. Dezember 1600
    Nachdem das mit Andy passiert war, ging ich zu einer Therapeutin. In der dritten Sitzung, nachdem ich eine Stunde lang mit einer Schachtel Kleenex im Schoß auf der mit einer Patchworkdecke dekorierten Couch gelegen und nicht hatte reden wollen oder können, gab sie mir eine Hausaufgabe mit: Schreib deinem toten Bruder einen Brief. Ich sollte Andy sagen, dass ich ihn liebte oder dass ich ihn hasste oder dass ich ihm Vorwürfe machte, weil er gestorben war, oder meinetwegen, dass ich mir sein Patriots-Sweatshirt ausgeliehen hatte, ohne ihn zu fragen, und es versehentlich im Bus hatte liegen lassen. Den Brief habe ich nie geschrieben. Und zu der Therapeutin bin ich nie wieder hingegangen.
    Doch manchmal redete ich mit ihm. Wenn ich in der Dunkelheit in meinem Bett lag, an seinem Geburtstag oder an seinem Todestag, manchmal auch an einem ganz normalen Tag, wenn unsere Mutter – jetzt nur noch meine Mutter – in ihrem Arbeitszimmer und mein Vater in seinem Arbeitszimmer schlief und ich wie ein Geist in unserem Haus herumschlich. Ich redete mit ihm, von Geist zu Geist, und dann fühlte ich mich…nicht unbedingt besser. Ich fühlte mich ganz. Aber nicht, weil ich dachte, er könnte mich tatsächlich hören. Das habe ich mir nie vorgemacht. Es gab keinen Andy mehr.
    Tot ist tot.
    Diese Gespräche in der Dunkelheit waren mein Geheimnis. Und wenn ich den Brief geschrieben hätte, wäre er auch ein Geheimnis gewesen. Er wäre nicht für meine Therapeutin bestimmt gewesen, auch nicht für meine Eltern – nicht einmal für ihn. Er wäre für mich gewesen. So wie dieser Brief für Elizabeth bestimmt war.
    Der Tod bedeutete das Ende der Privatsphäre. Das wusste ich. Es war mir klar geworden, als meine Eltern Andys Zimmer ausräumten, als sie Schubladen und Schränke durchwühlten, die er vor ihnen verschlossen hatte, als sie seine E-Mails lasen, als sie die Teile aussuchten, die sie von ihm behalten wollten, und den Rest auf den Müll warfen. Sie ließen ihm nichts mehr und vielleicht hatte er das ja verdient, weil er auch nichts mehr war. Aber das war noch lange keine Rechtfertigung. Und es machte Elizabeths Brief nicht zu öffentlichem Eigentum, egal, wie viele Jahrhunderte seitdem vergangen waren. Ich erinnerte mich daran, was der Hoff über eine Veröffentlichung gesagt hatte und dass Elizabeths Briefe Teil eines historischen Erbes seien, ein der

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