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Das Buch der Gleichnisse

Das Buch der Gleichnisse

Titel: Das Buch der Gleichnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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gerührt, lächelnd, alles ausgewischt.
    War es Liebe gewesen? War es das? Hatten wir? Erkennst du mich wieder? Wie ein fragender freundlicher Händedruck, ja?
    Er hatte fast vergessen, wie es gewesen war, als es am schwersten war. Als er im Mai 1989 in Kopenhagen um 5.45 Uhr erwacht war, der Traum, der schwer und betrunken gewesen war, wich mühsam, er strich mit dem Finger über die aufgequollene Gesichtshaut: Offenbar lebte er.
    Er hatte wieder Gottes hechelnden Atem im Nacken gespürt.
    Er war aufgestanden. Draußen über dem Sortedam hing noch ein eigentümlicher Wassernebel, die Dunkelheit war aufgestiegen, lag aber noch wie eine schwebende graue Decke vielleicht fünf Meter über dem Wasser, das absolut glatt und still war, wie Quecksilber. Die Vögel schliefen, eingebohrt in sich selbst und ihre Träume. Konnten Vögel träumen? Er konnte das jenseitige Ufer nicht sehen. Nur eine unbewegte Wasseroberfläche, als befinde er sich am Ufer eines Meeres.
    Eine letzte Grenze. Am Ufer des Flusses? Er verdiente es nicht. Er hatte sein Pfund veruntreut. Und dann die Vögel, eingebohrt in ihre Träume.
    Plötzlich eine Bewegung; ein Vogel, der aufflog. Er konnte nichts hören, sah nur, wie er mit den Flügelspitzen die Wasserfläche peitschte, freikam: und schräg aufstieg. Es geschah so leicht, so schwerelos. Er sah, wie er abhob und zur grauen Decke des Wassernebels aufstieg und verschwand.
    Und nicht einen Laut hatte er gehört.
    Genauso, so leicht und schwerelos, mochte es gewesen sein, als der Vater starb und die verließ, die bei ihm wachte. Lautlos im eisgrauen Nebel. Ganz still. Keine Trauer über all das, was er hätte tun können. Vielleicht schreiben. Jetzt nur herausgerissene Seiten in einem Notizblock. Er selbst lag da im Mai 1989 tief im Dunkeln, darauf wartend, dass er an die Reihe käme auf dem Gottesacker, während das Geräusch von Gottes Hecheln in seinem Nacken erstarb.
    Zusammengerollt unter Großmutters Schaffelldecke.
    Während einiger Minuten konnte er sich auf dem Weg aus dem Schnapsschlaf an etwas mit Großmutters Schaffelldecke erinnern. War das unmittelbar vor der Frau auf dem Larssonhof gewesen? Dann war der Traum verschwunden, und es blieb nur die normale Angst angesichts des Gleichnisses von dem für immer veruntreuten Pfund.
    Was war zuvor gewesen? Er musste ja ein früheres Leben gelebt haben. Das war wohl das Normale, dass man ein früheres Leben hatte! War er nicht zumindest einmal sechs Jahre alt gewesen und barfuß auf dem Gras des Ackerrains gegangen ?
    Hummelgebrumm? Libellen? Ein Kreuzfuchs?, der das endgültige Gleichnis erzählt? Und er selbst hatte auf Großvater P.W. s Schoß gesessen und hinter ihnen der Vater Elof, tot und dennoch bei ihnen und anwesend . Er hielt die Arme um sie wie Engelsflügel, und der Fuchs hatte lächelnd und ruhig in der Einzäunung hinter dem Lokus gesessen.
    Und dann hatte, auf allgemeinen Wunsch, der Kreuzfuchs das Wort ergriffen und das Gleichnis von der Frau auf dem astfreien Kiefernholzboden erzählt.
    Es gab einen Spazierweg zwischen dem Haus und dem Sortedam in Kopenhagen, einen Sandpfad.
    Er hatte, vom Aussichtsfenster aus, die Sandkörner auf diesem Pfad zehn Jahre lang jeden Tag forschend beobachtet.
    Das Fenster war der Punkt, von dem aus er Jahr für Jahr die Erzählung vom Tod und der Lust betrachtet hatte. Aber er zählte diese Körner nicht mehr mit der gleichen Freude! Dies war ja das Bild der Ewigkeit! und der Hölle! Sandkörner zählen! Dieser Sandpfad war im übrigen von Woche zu Woche gleich. Und von Jahrhundert zu Jahrhundert. Kierkegaard war im Jahr 1848 jeden Tag hier gegangen, nachdem er aus Furcht vor der Liebe von Panik gepackt worden war und seine Verlobte Regine verlassen hatte.
    Dieser Kierkegaard hatte sich nicht ausreichend zusammengenommen, sondern war vom Erschauern vor der Liebe gepackt worden. Wäre er nur in der Kirche von Bureå konfirmiert worden! Und hätte gelernt, was Zerknirschung heißt!
    Regine war die erste und letzte Frau in seinem Leben. Er war von der Angst vor diesem Schwerverdaubaren an der Liebe ergriffen worden: dass er sie nicht würde verstehen können! Es würde so durchgreifend sein! Vielleicht würde er davon eingefangen! Das Wort Liebe war so unumstößlich . Da hatte er beschlossen, sich so anderst und abstoßend zu machen, dass er unerträglich würde. Sich nie waschen! Und schlecht riechen! Und zerrissene Kleidung tragen, vielleicht ständig betrunken sein? Das war ein Ausweg, das war ein

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