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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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hat Hector ihr nur vierundzwanzig Stunden gelassen. Damit sie keine Zeit zum Nachdenken hat.
    Alma stand auf, und während sie umherging und die Jalousien aufzog, stieg ich aus dem Bett und zog mich an. Es waren noch hundert Dinge zu sagen, aber das mussten wir alles auf später verschieben, denn erst einmal mussten wir uns die Filme ansehen. Sonnenschein strömte durch die Fenster, als Alma die Jalousien hochriss, und füllte das Zimmer mit blendender vormittäglicher Helligkeit. Sie trug Bluejeans, das weiß ich noch, und einen weißen Baumwollpullover. Keine Schuhe, keine Strümpfe, und die Nägel ihrer prächtigen kleinen Zehen waren rot lackiert. So hätte das nicht kommen dürfen. Ich hatte darauf gezählt, dass Hector für mich am Leben bleiben, dass er mir eine Reihe geruhsamer, beschaulicher Tage auf der Ranch gewähren würde, an denen ich nichts anderes zu tun gehabt hätte, als mir seine Filme anzusehen und im Dunkel seines Zimmers bei ihm zu sitzen. Ich wusste kaum, welche Enttäuschung mich mehr schmerzte, welche Frustration größer war: nie mehr mit ihm reden zu können - oder die Gewissheit, dass die Filme verbrannt würden, ehe ich Gelegenheit hätte, sie alle zu sehen.
    Auf dem Weg nach unten kamen wir an Hectors Zimmer vorbei, und als ich hineinsah, zogen die kleinen Leute gerade das Bett ab. Das Zimmer war vollkommen leer geräumt. Die Gegenstände, die auf der Kommode und dem Nachttisch herumgelegen hatten, waren verschwunden (Pillenflaschen, Trinkgläser, Bücher, Thermometer, Handtücher), und abgesehen von den Decken und Kissen, die jetzt auf dem Boden lagen, wies nichts daraufhin, dass hier vor nur sieben Stunden ein Mensch gestorben war. Sie wollten gerade das unterste Laken abnehmen. Einander auf beiden Seiten des Betts gegenüberstehend, streckten sie die Hände vor und schickten sich an, die Zipfel am Kopfende herauszuziehen. Das hatte synchron zu geschehen, weil sie so klein waren (ihre Köpfe ragten kaum über die Matratze), und als das Laken sich einmal kurz aufbauschte, sah ich diverse Flecken und Verfärbungen darauf, die letzten intimen Spuren von Hectors Dasein auf der Welt. Wir alle sterben in Pisse und Blut, scheißen uns ein wie Neugeborene, ersticken an unserem eigenen Schleim. Gleich darauf lag das Laken wieder flach, und die taubstummen Diener schlugen es, indem sie am Bett hinunterschritten, übereinander und ließen es lautlos zu Boden fallen.
    Alma hatte Sandwichs und Getränke vorbereitet, die wir in den Vorführraum mitnehmen konnten. Als sie in die Küche ging, um den Picknickkorb zu füllen, schlenderte ich unten durchs Haus und sah mir die Kunstwerke an den Wänden an. Allein im Wohnzimmer hingen mindestens drei Dutzend Gemälde und Zeichnungen, ein weiteres Dutzend im Flur: farbenfrohe, wogende abstrakte Bilder, Landschaften, Porträts, Skizzen in Bleistift und Tusche. Nichts davon war signiert, doch alles schien das Werk eines einzigen Künstlers zu sein, und dafür kam nur Frieda infrage. Ich blieb vor einer kleinen Zeichnung stehen, die über dem Plattenschrank hing. Da ich keine Zeit hatte, mir alles anzusehen, beschloss ich, mich auf dieses eine Bild zu beschränken und den Rest zu ignorieren. Es zeigte ein Kind: einen zweijährigen Jungen, der mit geschlossenen Augen in seiner Wiege auf dem Rücken lag, offenbar schlafend. Das Papier war vergilbt und an den Rändern schon etwas brüchig, und als ich sah, wie alt es war, stand für mich fest: das Kind auf dem Bild war Tad, Hectors und Friedas toter Sohn. Nackt und biegsam die Arme und Beine; nackt der Oberkörper; eine geraffte Baumwollwindel, zusammengehalten von einer Sicherheitsnadel; die Gitterstäbe des Bettchens hinter dem Kopf nur angedeutet. Die Linienführung schien mir zupackend und spontan - eine Komposition aus rhythmischen, sicheren Strichen, die vermutlich in weniger als fünf Minuten entstanden war. Ich versuchte, mir die Szene vorzustellen, mich in den Augenblick zu versetzen, in dem die Spitze des Bleistifts zum ersten Mal das Papier berührt hatte. Eine Mutter sitzt neben ihrem Kind, das sein Mittagsschläfchen hält. Sie liest in einem Buch, doch als sie aufblickt und den Sohn in dieser ungeschützten Haltung sieht - den Kopf nach hinten und zur Seite gedreht -, kramt sie einen Bleistift aus der Jackentasche und beginnt ihn zu zeichnen. Da sie kein Papier zur Hand hat, benutzt sie die letzte Seite des Buchs, die zufällig leer ist. Als die Zeichnung fertig ist, reißt sie das Blatt aus dem

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