Das Buch der Illusionen
Buch und legt es weg - oder lässt es drin und vergisst die ganze Sache. Und falls sie es vergisst, werden Jahre vergehen, bis sie das Buch wieder aufschlägt und die vergessene Zeichnung entdeckt. Erst dann schneidet sie das spröde Blatt heraus, rahmt es und hängt es an die Wand. Wann das geschehen sein mochte, blieb mir verschlossen. Das konnte vor vierzig Jahren gewesen sein, es konnte vorigen Monat gewesen sein, aber wann auch immer sie auf dieses Porträt ihres Sohnes gestoßen war, war der Junge auf jeden Fall schon tot gewesen -vielleicht schon seit Langem, vielleicht schon länger, als ich am Leben war.
Als Alma aus der Küche kam, nahm sie mich an der Hand und führte mich aus dem Wohnzimmer in einen angrenzenden Flur mit weiß getünchten Stuckwänden und rotem Kachelboden. Ich möchte dir etwas zeigen, sagte sie. Ich weiß, unsere Zeit ist knapp, aber es dauert höchstens eine Minute.
Wir gingen an zwei oder drei Türen vorbei ans Ende des Flurs und blieben dann vor der letzten Tür stehen. Alma stellte den Essenskorb ab und zog einen dicken Schlüsselbund aus der Tasche. An dem Ring mochten fünfzehn bis zwanzig Schlüssel befestigt sein, aber sie fand sofort den richtigen und schob ihn ins Schloss. Hectors Arbeitszimmer, sagte sie. Hier hat er mehr Zeit verbracht als irgendwo sonst. Die Ranch war seine Welt, und das hier war das Zentrum dieser Welt.
Das Zimmer war voller Bücher. Das fiel mir beim Eintreten als Erstes auf - wie viele Bücher dort waren. Drei der vier Wände waren vom Fußboden bis zur Decke mit Regalen besetzt, und diese Regale waren bis zum letzten Zentimeter mit Büchern vollgestopft. Weitere Haufen und Stapel türmten sich auf Stühlen und Tischen, auf dem Teppich, auf dem Schreibtisch. Leinenbände und Taschenbücher, neue Bücher und alte Bücher, Bücher in Englisch,
Spanisch, Französisch und Italienisch. Der Schreibtisch war ein langer Holztisch und stand in der Mitte des Zimmers -ein Pendant des Tisches, der in der Küche stand -, und unter den Titeln darauf, an die ich mich noch erinnere, war auch Mein letzter Seufzer von Luis Buñuel. Da das Buch aufgeschlagen und umgedreht vor dem Sessel lag, fragte ich mich, ob Hector es an dem Tag gelesen haben mochte, an dem er gestürzt war und sich das Bein gebrochen hatte - dem letzten Tag, den er jemals in seinem Arbeitszimmer verbracht hatte. Ich wollte es schon aufheben und nachsehen, an welcher Stelle er aufgehört hatte, als Alma mich wieder an der Hand nahm und zu den Regalen in der hinteren Ecke des Zimmers führte. Ich glaube, das wird dich interessieren, sagte sie. Sie zeigte auf eine Reihe Bücher ein paar Handbreit über ihrem Kopf (aber genau auf meiner Augenhöhe), und ich sah, dass sie alle von französischen Autoren stammten: Baudelaire, Balzac, Proust, Lafontaine. Etwas weiter links, sagte Alma, und als ich den Blick nach links über die Buchrücken wandern ließ und zu ergründen versuchte, was sie mir wohl zeigen wollte, entdeckte ich plötzlich die vertrauten grüngoldenen Rücken der zweibändigen Pléiadeausgabe von Chateaubriands Mémoires d'outre-tombe.
Das hätte mich völlig kalt lassen können, tat es aber nicht. Chateaubriand war kein obskurer Schriftsteller, aber es bewegte mich, dass Hector das Buch gelesen hatte, dass er dasselbe Labyrinth von Erinnerungen betreten hatte, durch das ich in den vergangenen achtzehn Monaten gewandert war. Auch dies war ein Berührungspunkt, ein weiteres Glied in der Kette zufälliger Begegnungen und eigenartiger Einverständnisse, die mich von Anfang an zu ihm hingezogen hatte. Ich nahm den ersten Band aus dem Regal und schlug ihn auf. Ich wusste, dass Alma und ich es eilig hatten, konnte aber nicht dem Drang widerstehen, ein paar Seiten mit den Fingern zu befühlen, einige der Worte zu berühren, die Hector in der Stille dieses Zimmers gelesen hatte. Das Buch öffnete sich irgendwo in der Mitte, und mir fiel auf, dass ein Satz schwach mit Bleistift unterstrichen war. Les moments de crise produisent un redoublement de vie chez les hommes. Augenblicke der Krise bewirken eine Steigerung der Lebenskräfte. Oder vielleicht etwas pointierter: Der Mensch beginnt erst dann richtig zu leben, wenn er mit dem Rücken an der Wand steht.
Wir eilten mit unseren Sandwichs und kalten Getränken in den heißen Sommermorgen hinaus. Einen Tag zuvor waren wir in New England durch die Zerstörungen eines Gewittersturms gefahren. Jetzt gingen wir unter wolkenlosem Himmel durch die Wüste
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