Das Buch der Illusionen
als niemand antwortete, fragte sie noch einmal und legte dann auf. Sie drehte sich um und sah uns mit qualvoller Miene an. Niemand, sagte sie. Niemand, verdammter Mist.
Hector starb wenige Stunden später, irgendwann zwischen drei und vier Uhr morgens. Alma und ich schliefen, als es geschah, nackt im Gästezimmerbett. Wir liebten uns, sprachen miteinander, liebten uns wieder, und ich kann nicht genau sagen, wann unsere Körper schließlich den Dienst versagten. Alma war in zwei Tagen zweimal quer durchs ganze Land gereist, war Hunderte Meilen zu Flughäfen hin- und von Flughäfen weggefahren, und trotzdem vermochte sie sich aus den Tiefen des Schlafs zu reißen, als Juan an die Tür klopfte. Ich nicht. Ich schlief bei all dem Lärm und Aufruhr weiter und bekam schlichtweg gar nichts mit. Nach Jahren der Schlaflosigkeit und ruheloser Nächte schlief ich endlich einmal tief und fest, und das ausgerechnet in der einen Nacht, in der ich hätte wach sein sollen.
Erst um zehn Uhr morgens schlug ich die Augen auf. Alma saß neben mir auf der Bettkante, streichelte meine Wange und flüsterte mit ruhiger, aber drängender Stimme meinen Namen, und selbst nachdem ich mir den Schlaf aus den Augen gerieben und mich auf einen Ellbogen hochgestützt hatte, behielt sie die schlimme Nachricht noch zehn oder fünfzehn Minuten für sich. Erst küssten wir uns und tauschten uns auf sehr intime Weise über unsere Gefühle aus, dann reichte sie mir einen Becher Kaffee, den sie mich bis zur Neige austrinken ließ, ehe sie zu erzählen anfing. Ich habe sie immer für die Kraft und Disziplin bewundert, die sie dabei aufbrachte. Indem sie nicht sofort von Hector sprach, gab sie mir zu verstehen, dass sie uns nicht in dieser Geschichte untergehen lassen würde. Wir hatten jetzt unsere eigene Geschichte begonnen, und die war ihr genauso wichtig wie die andere - die ihr Leben war, ihr ganzes Leben bis zu dem Augenblick, da sie mich kennengelernt hatte.
Sie sei froh, dass ich von alldem nichts mitbekommen habe, sagte sie. Das habe ihr die Möglichkeit gegeben, eine Weile allein zu sein und ein paar Tränen zu vergießen; so habe sie, bevor der Tag anfing, das Schlimmste schon hinter sich bringen können. Das werde ein schwerer Tag, fuhr sie fort, ein schwerer und ereignisreicher Tag für uns beide. Frieda sei auf dem Kriegspfad - sie rücke an allen Fronten vor und mache sich bereit, so bald wie möglich alles zu verbrennen.
Ich dachte, wir hätten vierundzwanzig Stunden, sagte ich.
Das dachte ich auch. Aber Frieda sagt, es muss innerhalb von vierundzwanzig Stunden geschehen. Wir hatten einen Riesenstreit über diesen Punkt, bevor sie weggefahren ist.
Weggefahren? Das heißt, sie ist nicht auf der Ranch?
Das war eine unglaubliche Szene. Zehn Minuten nachdem Hector gestorben ist, hat Frieda die Vista-Verde-Leichenhalle in Albuquerque angerufen und gebeten, man möge so bald wie möglich einen Wagen zu uns rausschicken. Der kam zwischen sieben und halb acht, das heißt, sie müssten jetzt fast schon zurück sein. Sie will, dass Hector heute noch eingeäschert werden soll.
Kann sie das machen? Muss man da nicht vorher eine Menge Formalitäten erledigen?
Sie braucht nur einen Totenschein. Hat der Arzt den Leichnam untersucht und festgestellt, dass Hector eines natürlichen Todes gestorben ist, kann sie machen, was sie will.
Sie muss das die ganze Zeit so geplant haben. Sie hat es dir bloß nicht erzählt.
Aber es ist haarsträubend. Während wir uns im Vorführraum Hectors Filme ansehen, wird seine Leiche in einem Ofen zu Asche verbrannt.
Und wenn sie zurückkommt, werden auch die Filme zu Asche verbrannt.
Wir haben nur ein paar Stunden. Nicht genug Zeit, sie alle zu sehen, aber zwei oder drei könnten wir schaffen, wenn wir sofort anfangen.
Nicht grade viel, wie?
Sie wollte sie schon alle heute früh verbrennen. Das habe ich ihr immerhin ausreden können.
Wie du das sagst, könnte man meinen, sie habe den Verstand verloren.
Ihr Mann ist tot, und als Erstes soll sie seine Arbeit vernichten, alles vernichten, was sie gemeinsam geschaffen haben. Wenn sie nur eine Sekunde darüber nachdenken würde, brächte sie das gar nicht fertig. Natürlich hat sie den Verstand verloren. Vor fast fünfzig Jahren hat sie ihm dieses Versprechen gegeben, und heute ist der Tag, an dem sie es einzulösen hat. Ich an ihrer Stelle würde das auch so schnell wie möglich hinter mich bringen wollen. Es hinter mich bringen - und dann zusammenbrechen. Deshalb
Weitere Kostenlose Bücher