Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
und atmeten dünne, nach Wacholder duftende Luft. Weiter rechts sah ich Hectors Bäume, und als wir außen um den Garten herumschritten, lärmten im hohen Gras die Zikaden los. Tupfer von Schafgarbe, Flohkraut und Labkraut. Ich war überwachsam, erfüllt von einer Art irrer Entschlossenheit, in einer konfusen Stimmungsmelange aus Angst, Erwartung und Glück - als hätte ich drei Köpfe, die alle auf einmal arbeiteten. In weiter Ferne erhob sich eine gigantische Bergkette; hoch oben kreiste ein Raubvogel; ein blauer Schmetterling landete auf einem Stein. Wir hatten uns noch keine hundert Meter vom Haus entfernt, und schon spürte ich, wie mir der Schweiß auf die Stirn trat. Alma zeigte auf ein lang gestrecktes, eingeschossiges Lehmziegelgebäude, vor dessen rissigen Zementstufen Unkraut wucherte. Dort haben die Schauspieler und Techniker geschlafen, wenn gerade ein Film produziert wurde, sagte sie, aber jetzt waren die Fenster mit Brettern zugenagelt, Wasser und Strom abgestellt. Der Gebäudekomplex für die Postproduktion lag noch einmal fünfzig Meter weiter, aber was meine Aufmerksamkeit fesselte, war das Haus dahinter. Das Filmstudio war ein riesiger, unregelmäßiger Würfel, der weiß in der Sonne gleißte, ein Anblick, der in dieser Gegend einen seltsamen Eindruck auf mich machte, eher wie ein Flugzeughangar oder ein Lastwagendepot als ein Ort, an dem man Filme drehte. Einer plötzlichen Regung folgend, drückte ich Almas Hand und verschränkte dann meine Finger mit ihren. Welchen Film sehen wir uns als Erstes an?, fragte ich.
    Das Innenleben des Martin Frost.
    Warum den und keinen anderen?
    Weil es der kürzeste ist. Den können wir auf jeden Fall zu Ende sehen, und wenn Frieda dann noch nicht zurück ist, nehmen wir uns den nächstkürzeren vor. Was Besseres ist mir nicht eingefallen.
    Das ist alles meine Schuld. Ich hätte schon vor einem Monat kommen sollen. Du glaubst gar nicht, wie blöd ich mir vorkomme.
    Friedas Briefe waren nicht sehr einladend. Ich an deiner Stelle hätte auch gezögert.
    Erst konnte ich nicht akzeptieren, dass Hector noch am Leben ist. Und als ich es dann akzeptierte, konnte ich nicht akzeptieren, dass er im Sterben lag. Diese Filme liegen hier seit Jahren herum. Wenn ich sofort gehandelt hätte, hätte ich sie alle sehen können. Ich hätte sie mir zwei-oder dreimal ansehen, sie auswendig lernen und ganz in mich aufnehmen können. Und jetzt müssen wir uns hetzen, um wenigstens einen zu sehen. Absurd.
    Hadere nicht mit dir, David. Ich habe monatelang versucht, die beiden davon zu überzeugen, dass du auf die Ranch kommen solltest. Wenn hier jemand Schuld hat, dann ich. Ich war zu langsam. Ich bin es, die sich blöd vorkommt.
    Alma öffnete die Tür mit einem anderen ihrer Schlüssel, und kaum traten wir über die Schwelle in das Gebäude hinein, sank die Temperatur um zehn Grad. Die Aircondition lief, und falls man sie nicht die ganze Zeit laufen ließ (was ich bezweifelte), musste Alma heute Morgen also schon einmal hier gewesen sein. Das schien nicht weiter wichtig, doch als ich kurz darüber nachgedacht hatte, stieg unendliches Mitgefühl in mir auf. Um sieben oder halb acht hatte sie Frieda mit Hectors Leichnam fortfahren sehen, und statt dann zu mir zu kommen und mich zu wecken, war sie zum Postproduktions-Gebäude hinübergegangen und hatte die Aircondition angestellt. Dann hatte sie, während es allmählich kühler wurde, zweieinhalb Stunden lang allein hier drin gesessen und Hector betrauert, weil sie sich erst ausweinen musste, ehe sie wieder vor mich treten konnte. In diesen Stunden hätten wir schon einen ganzen Film sehen können, aber da war sie noch nicht so weit, und so war ihr ein Teil des Tages unter den Händen zerronnen. Alma war nicht hart. Sie war tapferer, als ich ihr zugetraut hatte, aber hart war sie nicht, und als ich ihr durch den kalten Korridor zum Vorführraum folgte, begriff ich endlich, wie furchtbar dieser Tag für sie werden würde, wie furchtbar er bereits gewesen war.
    Türen links, Türen rechts, aber keine Zeit, eine davon zu öffnen, keine Zeit, irgendwo hineinzugehen und im Schneideraum oder im Tonstudio herumzustöbern, keine Zeit, auch nur zu fragen, ob die ganze Technik überhaupt noch da sei. Am Ende des Korridors wandten wir uns nach links in einen weiteren Gang, dessen kahle Wände (mattblau, erinnere ich mich) aus Schlackensteinen gemauert waren, und gelangten schließlich durch eine Doppeltür in das kleine Theater. Drei Reihen

Weitere Kostenlose Bücher