Das Buch der Illusionen
bevölkerten Landstrich kam und mehr davon sehen wollte, noch nicht genug davon hatte. Die meisten Fotos waren extreme Nahaufnahmen, im Hintergrund nichts als leerer Himmel. Auf manchen Bildern war auch ein wenig Gras zu sehen, ein Fleckchen Erde, ganz selten in der Ferne ein Fels oder ein Berg. Ins Auge fallend war die Abwesenheit von Menschen; es gab nicht den geringsten Hinweis auf menschliche Aktivität. New Mexico war seit Tausenden von Jahren bewohnt, aber beim Betrachten dieser Fotos hatte man das Gefühl, dass dort noch nie etwas geschehen, dass seine gesamte Geschichte ausgelöscht sei. Keine urzeitlichen Felsenbewohner, keine archäologischen Ruinen, keine spanischen Eroberer, keine Jesuitenpriester, kein Pat Garrett, kein Billy the Kid, keine indianischen Pueblos, keine Atombombenkonstrukteure. Nur das Land und das, was auf dem Land wuchs, die dürren Stiele und Stengel und winzigen Pflanzen, die aus dem verdorrten Boden sprossen: eine Zivilisation, die auf ein bisschen Unkraut reduziert war. Die Pflanzen selbst waren nicht sonderlich attraktiv, aber ihre Namen klangen beeindruckend, und nachdem ich die Bilder studiert und die begleitenden Texte gelesen hatte (Blattspreite oval bis lanzettförmig... Achänen abgeflacht, gerippt und runzlig, mit Flaum aus haarfeinen Borsten) , legte ich eine kurze Pause ein und schrieb mir einige dieser Namen ins Notizbuch. Ich begann auf einer frischen Seite, unmittelbar im Anschluss an meine Auszüge aus Hectors Tagebuch, die wiederum auf die Inhaltsangabe von Das Innenleben des Martin Frost folgten. Die Worte hatten etwas Zähes, Klebriges, und ich machte mir den Spaß, sie laut vor mich hinzusagen, ihren sturen, rasselnden Klang auf meiner Zunge zu spüren. Wenn ich mir die Liste heute ansehe, kommt sie mir beinahe wie Kauderwelsch vor, wie eine wahllose Ansammlung von Silben aus einer toten Sprache - vielleicht aus der Sprache, die einst auf dem Mars gesprochen wurde:
Eselskerbel. Hundskohl. Schlauchscheibling. Skelettblättrige Franseria. Gemeiner Strandbeifuß. Nickender Zweizahn. Kratzdistel. Sonnenwendflockenblume. Behaarter Alant. Borsten-Pippau. Gummipflanze. Fleckiges Ferkelkraut. Greiskraut. Zungenstendel. Mariendistel. Bleichgelbes Ruhrkraut. Brachbülz. Dornige Spitzklette. Bärtiger Igelsame. Leindotter. Besenkraut. Färbewaid. Rankender Nelkenzimt. Taubenkropfleimkraut. Mauergänsefuß. Teufelszwirn. Liegende Wolfsmilch. Marsilischer Boxdorn. Pyramidalische Trichterwinde. Haariger Spitzkiel. Ackermies. Taubnessel. Tintenmistblätterling. Kamm-Sommermalve. Unholdenkraut. Prachtkerze. Unbewehrte Trespe. Kallargras. Gabelblütige Hirse. Mäuseschwanz-Federschwingel. Tännelkraut. Lolch. Gamander-Ehrenpreis. Krötenmelde.
Vermont sah anders aus, als ich zurückkam. Ich war nur drei Tage und zwei Nächte fort gewesen, aber während meiner Abwesenheit war alles kleiner geworden: geschrumpft, dunkel, klamm. Das Grün der Wälder um mein Haus kam mir unnatürlich vor, viel zu üppig im Vergleich zum Ocker und Braun der Wüste. Die Luft klebte vor Feuchtigkeit, die Erde war weich unter den Schuhen, und wohin ich mich auch wandte, überall sah ich das wilde Wuchern pflanzlichen Lebens und erschreckenden Verfall: durchnässte Zweige und Rindenstücke, die auf den Pfaden moderten, Pilze und Schwämme an den Bäumen, Mehltauflecken an den Mauern des Hauses. Nach einer Weile begriff ich, dass ich diese Dinge mit Almas Augen sah, dass ich sie mit einer neuen Klarheit zu sehen versuchte, um mich auf den Tag vorzubereiten, an dem sie bei mir einziehen würde. Der Flug nach Boston war gut gelaufen, viel besser, als ich zu hoffen gewagt hatte, und als ich aus dem Flugzeug stieg, glaubte ich, Bedeutendes geleistet zu haben. Im großen Weltenlauf war es gewiss nicht viel, aber im Kleinen, an dem mikroskopischen Ort, an dem private Schlachten gewonnen und verloren werden, zählte es als einzigartiger Sieg. Ich fühlte mich stärker als jemals in den vergangenen drei Jahren. Fast wieder gesund, sagte ich mir, fast wieder bereit, ein ganzer Mensch zu werden.
In den nächsten Tagen packte ich alles Mögliche zugleich an. Ich arbeitete am Chateaubriand weiter, brachte meinen ramponierten Wagen zur Reparatur und putzte das Haus bis in die letzten Winkel - schrubbte die Fußböden, polierte die Möbel, staubte die Bücher ab. Mir war klar, dass die fundamentale Hässlichkeit der Architektur sich durch nichts verbergen ließ, aber immerhin konnte ich die Zimmer ansehnlich herrichten
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