Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Verlust habe das alles geändert. Kaum sei er Waise geworden, sagt er, habe er nur noch davon geträumt, nach Amerika zurückzukehren und dort ein neues Leben anzufangen. Es mussten zahllose Wunder geschehen, ehe das möglich wurde, aber nun sei er hier und habe das sichere Gefühl, endlich in dem Land zu sein, für das er bestimmt sei.
    Manche dieser Behauptungen mochten wahr gewesen sein, aber nicht viele, und vielleicht auch keine einzige. Dies ist die vierte Version seiner Vergangenheit, und obwohl sie allesamt gewisse Elemente gemeinsam haben (Deutsch oder Polnisch sprechende Eltern, Aufenthalt in Argentinien, Auswanderung aus der Alten Welt in die Neue), ist doch alles andere sehr vage. In einem Artikel ist er realistisch und nüchtern, im nächsten ist er verzagt und sentimental. Für den einen Journalisten ist er ein Unruhestifter, für den anderen ist er fügsam und fromm; er ist in reichen, er ist in armen Verhältnissen aufgewachsen; er spricht mit starkem Akzent, er spricht ohne jeden Akzent. Nimmt man diese Widersprüche zusammen, ergeben sie ein Nichts, das Porträt eines Mannes mit so vielen Persönlichkeiten und Familiengeschichten, dass wir nur einen Haufen Fragmente vor uns sehen, ein Puzzle, dessen Teile nicht mehr zusammenpassen. Werden ihm Fragen gestellt, gibt er jedes Mal andere Antworten. Worte strömen aus ihm hervor, aber er ist entschlossen, niemals irgendetwas zweimal zu sagen. Er scheint etwas zu verbergen, ein Geheimnis zu bewahren, und doch bewerkstelligt er seine Verschleierungen mit solcher Anmut und überschäumend guter Laune, dass ihm offenbar niemand auf die Schliche kommt. Die Journalisten finden ihn unwiderstehlich. Er bringt sie zum Lachen, er amüsiert sie mit seinen kleinen Zaubertricks, und nach einer Weile verzichten sie darauf, konkrete Fakten abzufragen, und verfallen der Kraft seiner Darstellungskunst. Hector improvisiert weiter, schlägt wilde Kapriolen von den gepflasterten Prachtstraßen Wiens zu den wohlklingenden Ebenen Ohios, und am Ende fragt man sich, ob dies ein Spiel mit Täuschungen ist oder nur ein plumper Versuch, sich die Langeweile zu vertreiben. Vielleicht sind diese Lügen harmlos. Vielleicht will er niemanden zum Narren halten, sondern sucht nur nach einer Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben. Interviews können schließlich sehr öde sein. Wenn alle einem ständig dieselben Fragen stellen, muss man sich vielleicht neue Antworten ausdenken, wenn man wach bleiben will.
    Nichts war sicher, aber nachdem ich dieses Durcheinander von gefälschten Erinnerungen und diffusen Anekdoten gesichtet hatte, glaubte ich, doch immerhin eine kleinere Tatsache konstatieren zu können. In den ersten drei Interviews weicht Hector der Frage nach seinem Geburtsort aus. Als O"Fallon ihn danach fragt, sagt er Deutschland; von Simms danach gefragt, sagt er Österreich; aber in beiden Fällen nennt er keinerlei Einzelheiten: kein Dorf, keine Stadt, keine Region. Erst im Gespräch mit Barker geht er ein wenig aus sich heraus und füllt die Lücken. Stanislaw hatte früher zu Österreich-Ungarn gehört, war aber nach dem Zusammenbruch des Reiches am Ende des Kriegs an Polen gegangen. Polen ist für Amerikaner ein fernes Land, wesentlich ferner als Deutschland, und da Hector sonst alles Mögliche tat, um seine Fremdheit herunterzuspielen, wirkt es ziemlich merkwürdig, dass er nun ausgerechnet diese Stadt als seinen Geburtsort nennt. Der einzig denkbare Grund dafür schien mir zu sein, dass es der Wahrheit entsprach. Ich konnte den Verdacht nicht bestätigen, aber eine Lüge hätte in diesem Fall einfach keinen Sinn ergeben. Polen war ihm nicht förderlich, und wenn es sein Ziel war, sich ein falsches Vorleben zurechtzuzimmern - warum es dann erwähnen? Es war ein Versehen, ein kurzer Aussetzer, und kaum hat Barker diesen Versprecher aufgeschnappt, versucht Hector den Schaden auch schon zu begrenzen. Hat er sich eben noch als allzu exotischen Fremden dargestellt, neutralisiert er diesen Irrtum jetzt durch Verweis auf seine amerikanischen Referenzen. Er versetzt sich nach New York, in die Stadt der Einwanderer, und bringt die Sache durch eine Reise ins Herzland zum Abschluss. Hier erwähnt er Sandusky, Ohio. Er pflückt den Namen aus der Luft, er fliegt ihm aus der biografischen Skizze zu, die sechs Monate zuvor über ihn erschienen war, und er wirft ihn dem arglosen B. T. Barker vor die Füße. Damit erreicht er seinen Zweck. Der Journalist ist abgelenkt, und statt weitere

Weitere Kostenlose Bücher