Das Buch der Illusionen
stand ich munter auf, ging zum Schrank im Gästezimmer und kramte meine alten Forschungsergebnisse zu Hector hervor, die ich nach Beendigung des Buchs in Pappkartons verstaut hatte. Insgesamt waren es sechs Kartons. Fünf davon enthielten Notizen, Skizzen und Entwürfe zu meinem ersten Manuskript, aber die sechste war voll gestopft mit allerlei wertvollem Material: Zeitungsausschnitte, Fotos, Mikrofilme, Fotokopien, kleine Artikel aus alten Klatschkolumnen, alles, was mir an Gedrucktem über Hector Mann in die Finger geraten war. Ich hatte mir diese Papiere seit langer Zeit nicht mehr angesehen, und da ich nichts anderes zu tun hatte, als auf Frieda Spellings nächsten Brief zu warten, trug ich den Karton in mein Arbeitszimmer und verbrachte den Rest der Woche damit, darin herumzustöbern. Ich habe wohl nicht erwartet, dort irgendetwas Neues zu entdecken, aber die Einzelheiten waren inzwischen natürlich verblasst, und ich fand, ich sollte mich doch noch einmal damit beschäftigen. Die meisten der von mir gesammelten Informationen waren unzuverlässig: Artikel aus der Boulevardpresse, Blödsinn aus Fan-Zeitschriften, Filmreportagen voller Übertreibungen, falscher Voraussetzungen und erwiesener Unwahrheiten. Trotzdem, solange ich nicht vergaß, alldem mit gehörigem Zweifel zu begegnen, konnte die Lektüre jedenfalls nicht schaden.
Zwischen August 1927 und Oktober 1928 gingen vier biografische Skizzen über Hector Mann durch die Presse. Die erste erschien in Kaleidoscopes monatlichem Bulletin, dem Werbeblatt von Hunts neu gegründeter Produktionsgesellschaft. Im Grunde handelte es sich um eine Pressemitteilung, in der gemeldet wurde, dass der Vertrag mit Hector unterzeichnet worden sei, und da zu diesem Zeitpunkt nur wenig über ihn bekannt war, konnten die Verfasser irgendwelche Geschichten erfinden, wie sie ihnen gerade in den Kram passten. Damals waren die Tage des Latin Lover in Hollywood noch nicht ganz vorbei, es war die Zeit kurz nach Valentinos Tod, als dunkle, exotische Ausländer immer noch große Zuschauermassen anzogen, und um sich auch ein Stück von diesem Kuchen abzuschneiden, pries Kaleidoscope Hector als Señor Slapstick an, als südamerikanischen Herzensbrecher mit komischer Note. Zur Bekräftigung dieser Aussage dachte man sich eine faszinierende Liste von Erfolgen für ihn aus, eine vollständige Karriere, die angeblich schon vor seiner Ankunft in Kalifornien angefangen hatte: Varietéauftritte in Buenos Aires, ausgedehnte Vaudeville-Tourneen durch Argentinien und Brasilien, eine Reihe von Kassenschlagern, die er in Mexiko gedreht habe. Indem er Hector als bereits anerkannten Star präsentierte, konnte Hunt sich selbst den guten Ruf eines Mannes verschaffen, der ein Gespür für Talente hatte. Er war nicht irgendein Anfänger im Filmgeschäft, sondern ein kluger, wagemutiger Studioboss, der die Konkurrenz überboten und es geschafft hatte, einen berühmten ausländischen Entertainer ins Land zu holen und auf das amerikanische Publikum loszulassen. Mit solchen Lügen kam man damals ohne weiteres durch. Niemand achtete darauf, was sich in anderen Ländern abspielte. Und warum sollte man sich mit Tatsachen aufhalten, wenn die Phantasie so viele Möglichkeiten bot?
Sechs Monate später gewährte ein Artikel in der Februarausgabe von Photoplay einen etwas sachlicheren Blick auf Hectors Vergangenheit. Inzwischen waren mehrere seiner Filme auf den Markt gekommen, und da das Interesse an seiner Arbeit im ganzen Land zunahm, hielt man es zweifellos nicht mehr für nötig, sein Vorleben verzerrt darzustellen. Der Artikel stammte von einer Reporterin namens Brigid O"Fallon, und gleich an ihren ersten Bemerkungen über Hectors durchdringenden Blick und seine geschmeidige Kraft erkennt man, dass sie nur Schmeichelhaftes über ihn schreiben will. Bezaubert von seinem starken spanischen Akzent und doch voller Lob für sein fließendes Englisch, fragt sie ihn, wie es kommt, dass er einen deutschen Namen hat. Ist ganz einfach, antwortet Hector. Mein Eltern geboren in Deutschland, und ich auch. Wir emigrieren nach Argentinien, wenn ich ein kleine Kind. Zu Haus ich sprechen Deutsch mit ihnen, in der Schule Spanisch. Englisch später, als ich kommen nach Amerika. Aber noch nicht gut. Miss O"Fallon fragt ihn, wie lange er schon hier sei, und Hector sagt: drei Jahre. Das widerspricht natürlich der von Kaleidoscopes Bulletin verbreiteten Information, und als Hector dann von einigen Jobs erzählt, die er nach seiner
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