Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Fragen zu Polen zu stellen, lehnt er sich in seinem Sessel zurück und ergeht sich zusammen mit Hector in Erinnerungen an die Luzernefelder des Mittleren Westens.
    Stanislaw liegt südlich des Dnjestr, etwa in der Mitte zwischen Lwow und Tschernowitz in der Provinz Galizien. Wenn Hector dort seine Kindheit verlebt hat, besteht guter Grund zu der Annahme, dass er als Jude geboren wurde. Dass es in diesem Gebiet sehr viele jüdische Siedlungen gab, reichte noch nicht, um mich davon zu überzeugen, aber nimmt man zum hohen jüdischen Bevölkerungsanteil die Tatsache hinzu, dass seine Familie von dort ausgewandert ist, scheint die Annahme doch recht überzeugend. Wenn jemand diesen Teil der Welt verlassen hat, dann waren es die Juden, und mit Beginn der russischen Pogrome in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts schwärmten Hunderttausende Jiddisch sprechender Immigranten nach Westeuropa und in die Vereinigten Staaten aus. Viele von ihnen gingen auch nach Südamerika. Allein in Argentinien wuchs die Zahl der jüdischen Einwohner zwischen der Jahrhundertwende und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs von sechstausend auf hunderttausend an. Zweifellos hatte Hectors Familie zu dieser Statistik beigetragen. Wenn nicht, wäre sie kaum in Argentinien gelandet. Wer in diesem Moment der Geschichte von Stanislaw nach Buenos Aires reiste, musste Jude sein.
    Ich war stolz auf meine kleine Entdeckung, hielt sie aber nicht für besonders wichtig. Wenn Hector wirklich etwas zu verbergen hatte und wenn dieses Etwas sich als die Religion erwies, in die er hineingeboren worden war, dann war ich lediglich auf eine sehr weit verbreitete Form gesellschaftlicher Heuchelei gestoßen. Damals war es in Hollywood kein Verbrechen, Jude zu sein. Es war nur etwas, worüber man lieber nicht sprach. Jolson hatte zu der Zeit bereits The Jazz Singer gedreht, und in die Theater am Broadway strömten Leute, die Geld dafür bezahlten, Eddie Cantor und Fanny Brice zu sehen, Irving Berlin und die Gershwins zu hören und den Marx Brothers zu applaudieren. Es kann sein, dass es für Hector eine Belastung war, Jude zu sein. Vielleicht hat er darunter gelitten, vielleicht hat er sich deswegen geschämt, aber ich konnte mir kaum vorstellen, dass man ihn deswegen getötet hätte. Natürlich gibt es immer irgendwelche bigotten Menschen, die genug Hass in sich haben, einen Juden zu ermorden, aber wer so etwas tut, will auch, dass sein Verbrechen bekannt wird, es soll als Exempel dienen, um andere in Angst und Schrecken zu versetzen. Und was auch immer Hectors Schicksal gewesen sein mochte, eine Tatsache stand fest: Seine Leiche war nie gefunden worden.
    Von dem Tag, als er bei Kaleidoscope unterschrieb, bis zum Tag seines Verschwindens vergingen nur siebzehn Monate; das war Hectors ganze Karriere. Doch selbst in dieser so kurzen Zeit erwarb er einige Anerkennung, und Anfang 1928 begann sein Name in den Hollywood-Klatschspalten aufzutauchen. Es war mir auf meinen Reisen gelungen, etwa zwanzig dieser Artikel aus diversen Mikrofilmarchiven zu besorgen. Sicher waren mir viele andere entgangen, zu schweigen von all denen, die gar nicht mehr existierten, aber so spärlich und unzureichend diese Schnipsel auch waren, sie bewiesen immerhin, dass Hector nicht zu denen gehörte, die es vorziehen, abends allein zu Hause herumzusitzen. Er wurde in Restaurants und Nachtklubs gesehen, auf Partys und Filmpremieren, und fast jedes Mal wenn ein Reporter seinen Namen erwähnte, erging er sich in anschaulichen Schilderungen seiner glühenden Anziehungskraft, seiner unwiderstehlichen Augen oder seines herzzerreißend schönen Gesichts. Dies galt vor allem, wenn der Reporter eine Frau war, aber es gab auch Männer, die seinem Charme erlagen. Einer davon, der unter dem Namen Gordon Fly arbeitete (der Titel seiner Kolumne war Fly on the Wall), verstieg sich sogar zu der Bemerkung, Hector vergeude sein Talent in der Komödie und sollte zum Drama wechseln. Es verletzt den Sinn für ästhetische Proportion, schrieb Fly, wenn man sieht, wie Señor Mann sein elegantes Profil in Gefahr bringt, indem er immer wieder gegen Wände und Laternenpfähle rennt. Dem Publikum wäre besser gedient, wenn er auf derlei Kunststückchen verzichten und sich darauf konzentrieren würde, schöne Frauen zu küssen. Mit Sicherheit gibt es viele junge Schauspielerinnen in der Stadt, die bereitwillig in diese Rolle schlüpfen würden. Dem Vernehmen nach hatte Irene Flowers bereits mehrere Vorspieltermine,

Weitere Kostenlose Bücher