Das Buch der Illusionen
Saint John zu tun, dass er kaum darüber nachdachte. Wenn Brigid nichts von sich hören ließ, dann nur, weil sie eben zu ihrem Wort stand und viel zu stolz war, sich ihm in den Weg zu stellen. Er hatte ihr seine Absichten erklärt, und sie hatte sich zurückgezogen und ihn seinem Schicksal überlassen. Hatte er Glück, würde er sie wohl nie wieder sehen. Hatte er Pech, würde sie in letzter Minute herbeieilen und ihn zu retten versuchen.
Vermutlich diente es nur der Beruhigung seines Gewissens, dass Hector sich von O'Fallon solche Vorstellungen machte, dass er sie zu einer Art höherem Wesen stilisierte, das keinen Schmerz empfand, wenn es mit Messern traktiert wurde, das nicht blutete, wenn es verwundet wurde. Und wenn es keine überprüfbaren Fakten gibt, wird man doch ein wenig träumen dürfen? Er wollte glauben, dass es ihr gut ging, dass sie ihr Leben tapfer weiterlebte. Ihm fiel auf, dass keine Artikel mehr von ihr in Photoplay erschienen, aber das konnte seinen Grund auch darin haben, dass sie die Stadt verlassen oder irgendwo anders einen Job bekommen hatte, und fürs Erste schob er den Gedanken an irgendwelche dunkleren Möglichkeiten weit von sich. Erst als sie schließlich wieder auftauchte (und ihm am Silvesterabend einen Brief unter die Tür schob), erfuhr er, wie erbärmlich er sich getäuscht hatte. Zwei Tage nachdem er sie im Oktober verlassen hatte, hatte sie sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten. Wäre das Wasser nicht in die Wohnung unter ihr gelaufen, hätte die Vermieterin niemals ihre Wohnungstür aufgeschlossen, und Brigid wäre zu spät gefunden worden. Ein Krankenwagen brachte sie in die Klinik. Nach zwei Tagen war sie über den Berg, aber ihr Geist war zerrüttet, schrieb sie, sie redete unzusammenhängend und weinte von morgens bis abends, und die Ärzte beschlossen, sie zur Beobachtung noch länger dazubehalten. Am Ende verbrachte sie zwei Monate in der geschlossenen Abteilung. Sie war bereit gewesen, den Rest ihres Lebens dort zu verbringen, aber nur weil sie ohnehin nur noch ein einziges Ziel verfolgte, nämlich sich umzubringen, und es daher keine Rolle spielte, wo sie war. Doch gerade als sie den nächsten Versuch in Angriff nehmen wollte, geschah ein Wunder. Oder genauer, sie entdeckte, dass längst ein Wunder geschehen war und sie seit zwei Monaten im Bann dieses Wunders gelebt hatte. Nachdem die Ärzte ihr bestätigt hatten, dass es ein reales Ereignis war, dass sie sich das nicht bloß eingebildet hatte, wollte sie nicht mehr sterben. Sie hatte ihren Glauben schon vor Jahren verloren, schrieb sie. Sie war seit der Highschool nicht mehr zur Beichte gegangen, doch als die Schwester ihr an diesem Morgen die Untersuchungsergebnisse brachte, hatte sie ein Gefühl, als habe Gott seinen Mund auf den ihren gelegt und ihr neues Leben eingehaucht. Sie war schwanger. Es war im Herbst passiert, in der letzten Nacht, die sie miteinander verbracht hatten, und jetzt trug sie Hectors Kind unter dem Herzen.
Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus war sie aus ihrer Wohnung ausgezogen. Sie hatte ein wenig Geld gespart, aber das reichte nicht für die Miete, jedenfalls nicht, wenn sie nicht wieder arbeitete - und Arbeit hatte sie keine, weil sie bei der Zeitschrift gekündigt hatte. Sie habe sich irgendwo ein billiges Zimmer genommen, schrieb sie weiter, ein Zimmer mit einem eisernen Bettgestell, einem Holzkreuz an der Wand und einer Mäusefamilie unter den Dielenbrettern, aber den Namen des Hotels werde sie ihm nicht verraten, nicht einmal den Namen der Stadt, in der sie jetzt lebe. Er brauche gar nicht erst nach ihr zu suchen. Sie sei unter falschem Namen angemeldet, und sie werde noch eine Weile im Verborgenen bleiben, bis ihre Schwangerschaft so weit fortgeschritten sei, dass er keine Chance mehr habe, sie zu einer Abtreibung zu überreden. Sie sei fest entschlossen, das Kind zur Welt zu bringen, und ob Hector sie heiraten wolle oder nicht, nichts werde sie davon abhalten, die Mutter seines Kindes zu werden. Ihr Brief endete mit den Worten: Das Schicksal hat uns zusammengeführt, mein Liebling, und wo auch immer ich jetzt bin, du wirst immer bei mir sein.
Dann wieder Schweigen. Zwei Wochen vergingen, und Brigid hielt ihr Versprechen und blieb im Verborgenen. Hector erzählte Saint John nichts von O'Fallons Brief; dabei war ihm klar, dass seine Chancen, sie zu heiraten, so gut wie zunichte waren. Er konnte sich eine gemeinsame Zukunft mit ihr nicht mehr vorstellen, ohne zugleich
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