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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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auch an Brigid denken und sich mit Gedanken an seine schwangere ehemalige Geliebte quälen zu müssen, die in irgendeinem dreckigen Hotel in einer heruntergekommenen Gegend hauste und mit seinem Kind im Bauch dem Wahnsinn entgegendämmerte. Er wollte Saint John nicht verlieren. Er wollte den Traum nicht aufgeben, jeden Abend zu ihr ins Bett zu kriechen und ihren glatten, knisternden Leib an seiner nackten Haut zu spüren, aber ein Mann ist verantwortlich für seine Taten, und wenn das Kind zur Welt käme, gäbe es kein Entrinnen vor den Konsequenzen seines Tuns. Hunt tötete sich am elften Januar, aber an Hunt dachte Hector da schon gar nicht mehr, und als er am zwölften Januar davon erfuhr, empfand er gar nichts. Die Vergangenheit zählte nicht mehr. Nur noch die Zukunft war wichtig, und die Zukunft war plötzlich ins Wanken geraten. Er würde seine Verlobung mit Dolores lösen müssen, aber das konnte er erst tun, wenn Brigid wieder aufgetaucht war, und da er nicht wusste, wo er sie suchen sollte, konnte er gar nichts machen, konnte sich nicht vom Fleck rühren, an den die Gegenwart ihn geworfen hatte. Und so hatte er zunehmend das Gefühl, er sei mit den Füßen am Boden festgenagelt.
    Am vierzehnten Januar arbeitete er bis sieben Uhr abends mit Blaustein und machte dann Schluss. Saint John erwartete ihn in ihrem Haus im Topanga Canyon, wo sie um acht Uhr essen wollten. Normalerweise wäre Hector weit vor acht dort eingetroffen, aber unterwegs hatte er mit seinem blauen DeSoto eine Reifenpanne, und der Radwechsel kostete ihn eine volle Dreiviertelstunde. Ohne diese Reifenpanne wäre das Ereignis, das den Lauf seines ganzen Lebens verändern sollte, vielleicht niemals eingetreten, denn just zu der Zeit, als er in einer dunklen Seitenstraße des La Cienaga Boulevard in die Hocke ging und mit dem Wagenheber zu hantieren anfing, begab es sich, dass Brigid O'Fallon bei Dolores Saint John an die Tür klopfte, und als Hector seine kleine Aufgabe erledigt hatte und wieder am Steuer seines Autos saß, war Saint John das Missgeschick unterlaufen, dass sie O'Fallon eine Kugel vom Kaliber 32 ins linke Auge geschossen hatte.
    Jedenfalls behauptete sie, dass es ein Missgeschick war, und die entsetzte Miene, die ihn begrüßte, als er zur Haustür hereinkam, gab Hector keinen Anlass, daran zu zweifeln. Sie habe nicht gewusst, dass der Revolver geladen war, sagte sie. Ihr Agent hatte ihr die Waffe gegeben, als sie vor drei Monaten in dieses alleinstehende Haus im Canyon gezogen war. Sie sollte nur ihrem Schutz dienen, und als Bri-gid mit all diesen verrückten Sachen über sie hergefallen war, von Hectors Baby, aufgeschnittenen Pulsadern, vergitterten Irrenhausfenstern und Blut aus Christi Wunden gezetert hatte, hatte Dolores es mit der Angst bekommen und sie gebeten zu gehen. Aber Brigid dachte gar nicht daran, und ein paar Minuten später beschuldigte sie Dolores, ihr den Mann gestohlen zu haben, drohte ihr mit hirnverbrannten Ultimaten und beschimpfte sie als Teufel, als Flittchen, als miese dreckige Schlampe. Noch vor sechs Monaten war Brigid die nette Photoplay-Reporterin mit dem hübschen Lächeln und einem feinen Sinn für Humor gewesen, und jetzt war sie plötzlich verrückt geworden, eine gefährliche Irre, die hemmungslos heulend in Dolores' Wohnzimmer herumtobte, und Dolores wollte sie nur noch loswerden. Da fiel ihr der Revolver ein. Er lag in der mittleren Schublade des Rollpults, keine drei Meter von ihr entfernt, und so ging sie hin und zog die Schublade auf. Sie wollte eigentlich nicht schießen. Ihr einziger Gedanke war, Brigid mit der Waffe zu erschrecken und aus dem Haus zu jagen. Aber als sie das Ding aus der Schublade nahm und ins Zimmer richtete, löste sich irgendwie ein Schuss. Ohne besonders lautes Geräusch. Nur ein leiser Knall, sagte sie, und dann stieß Brigid ein seltsames Grunzen aus und brach zusammen.
    Dolores wollte nicht mit ihm ins Wohnzimmer gehen (Es ist zu schrecklich, sagte sie, ich kann das nicht ertragen), also ging er alleine hinein. Brigid lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Läufer vor dem Sofa. Ihr Körper war noch warm, aus ihrem Hinterkopf rann Blut. Hector drehte sie um, und als er in ihr zerstörtes Gesicht sah und das Loch erblickte, das einst ihr linkes Auge gewesen war, stockte ihm der Atem. Er konnte nicht gleichzeitig atmen und sie ansehen. Um wieder atmen zu können, musste er den Blick abwenden, und als er das getan hatte, fand er nicht mehr den Mut, sie noch einmal

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