Das Buch der Lebenskunst
Begegnung ein. Ich lege mich selbst auf die Waagschale, ohne zu wissen, wie das, was ich einsetze, beim andern ankommt. Ich wage mich aus mir heraus. Oder wenn ich mich für etwas entscheide, weiß ich nie im Vorhinein, wie es ausgeht. Doch wer sich nie entscheidet, wer sich immer vorher absichern möchte, der wird das Leben verpassen.
Kierkegaard hat Recht: Wer das Leben verpasst oder verweigert, dessen Seele erstarrt. Statt sich aufs Spiel zu setzen, setzt er seine Seele aufs Spiel.
Sie verkümmert und verdorrt.
VERWANDLE DEINE WUNDEN
Jeder ist in seiner Lebensgeschichte verletzt worden. Meine Erfahrung ist aber: Heute kreisen viele Menschen ständig um ihre Wunden. Es gibt eine Sucht, alle Verletzungen der Kindheit zu entdecken, um sie dann aufarbeiten zu können. Dahinter steckt der Gedanke der Perfektion und der Leistung. Wir meinen, wir müssten alle Wunden abarbeiten, wir müssten alles Krankmachende in uns ausradieren. Doch dieser Weg führt in die Sackgasse. Der wahre Weg besteht darin, dass wir uns aussöhnen mit unseren Verletzungen. Für Hildegard von Bingen besteht die Kunst menschlicher Selbstwerdung darin, dass unsere Wunden zu Perlen verwandelt werden. Wie kann das geschehen?
Die Verwandlung meiner Wunden zu Perlen besteht für mich einmal darin, dass ich diese Wunden als etwas Kostbares verstehe. Dort, wo ich verwundet bin, bin ich auch sensibel für die Menschen. Ich verstehe sie besser. Und noch mehr: Wo ich verwundet bin, komme ich in Berührung mit dem eigenen Herzen, mit meinem wahren Wesen. Ich gebe die Illusion auf, als ob ich ganz und gar stark und gesund und perfekt wäre. Ich nehme meine Brüchigkeit wahr. Das hält mich lebendig und macht mich menschlicher, barmherziger, milder. Dort, wo ich verletzt bin, liegt auch mein Schatz. Dort komme ich in Berührung mit meinem wahren Selbst und mit meiner Berufung. Dort entdecke ich auch meine Fähigkeiten. Nur der verwundete Arzt vermag zu heilen - das wussten schon die Griechen.
Die „Verwandlung der Wunden zu Perlen“ meint für mich aber noch etwas anderes. Für mich sind die Wunden der eigentliche Ort der Gotteserfahrung. Wie ist das zu verstehen? Ich nehme das Beispiel meiner Angst. Wenn ich gegen die Angst kämpfe, werde ich immer von ihr verfolgt werden. Wenn ich vor Gott mit meiner Angst spreche und sie zulasse, wenn ich sie befrage, wovor ich genau Angst habe, was der eigentliche Kern meiner Angst ist, dann steige ich immer tiefer in meine Angst hinein. Und auf dem Grund meiner Angst kann ich einen tiefen inneren Frieden erleben. Auf dem Grund meiner Angst kann ich Gott erfahren als den, der mich mit meiner Angst annimmt. Ich bin mit meiner Angst in seiner guter Hand. Oder wenn ich meine Empfindlichkeit nehme: Ich gebe sie zu.
Trotz meines spirituellen Weges bin ich immer noch empfindlich gegenüber Kritik, Ablehnung, Übersehenwerden. Wenn ich mich damit aussöhne, dann führt mich meine Empfindlichkeit immer tiefer in mein verwundetes Herz hinein, das sich nach Liebe, nach bedingungslosem Angenommenwerden sehnt. Dann erahne ich auf dem Grund meines wunden Herzens jemanden, der seine väterliche und mütterliche Hand über mich hält, der mich zärtlich berührt und mir sagt: „Ich bin bei dir.
Du musst gar nicht so stark sein, wie du es gerne sein möchtest. Es ist gut so, wie du bist. Gerade als dieser Mensch bist du mir wertvoll. Gerade so liebe ich dich.“
KRAFT AUS KRISEN
Wer meint, er könne alles, was er wolle, der irrt sich. Er muss erst seiner eigenen Grenze begegnen. Wer meint, er könne sich selbst mit seinem Willen in den Griff bekommen, der muss sich erst seinem Schatten stellen, um zu sehen, dass es in seinem Inneren Bereiche gibt, die sich nicht in den Griff nehmen lassen. Sie kann man nur annehmen und sich mit ihnen aussöhnen. Sie sind so mächtig, dass sie sich melden werden, ob wir wollen oder nicht. Und je stärker wir diese Bereiche unterdrücken, desto ungebändigter werden sie gegen uns aufstehen und unser bisher schein bar so fest gefügtes Lebensgebäude über den Haufen werfen. Das Unbewusste lässt sich nicht durch Aktivismus aus der Welt schaffen. Es lässt sich auch nicht wegrationalisieren. Nur wenn wir den Mut haben, hinabzusteigen in das eigene Unbewusste, in den Schatten unserer Seele, nur dann werden wir das Unbewusste als Lebensquelle entdecken, als Quelle innerer Kraft.
Ich erlebe in den Firmen viele Manager, die meinen, sie könnten allein durch Verstand und Willen das Leben
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