Das Buch der Lebenskunst
ich loslassen, auch noch meinen Verstand. Ich kann mich nur noch in Seine Hände fallen lassen und vertrauen, dass es so gut ist. Eine Tante von mir, die als Lehrerin ins Kloster eingetreten ist und immer sehr viel geredet hat, konnte die letzten fünf Jahre kein Wort mehr sprechen. Man spürte, wie sie sich immer mehr zurücknahm, wie sie gerade das ihr kostbare Sprechen loslassen musste, um in eine tiefere Dimension zu ge langen. Im Schweigen wurde ihr Gesicht auf einmal leuchtender und durchsichtiger.
ANNEHMEN UND LOSLASSEN
Das Leiden ist ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens.
Wir können ihm nicht ausweichen. Unser Leben gelingt nur, wenn wir einen Weg finden, das unausweichliche Leiden zu tragen. Darauf hat C. G. Jung hingewiesen: Wer dem Leiden ausweicht, wird oft genug neurotisch. Neurose nennt Jung den Ersatz für das notwendige Leiden an der menschlichen Existenz. Wer seine Begrenztheit nicht annimmt, wer seine Krankheit, sein ihm auferlegtes Leid nicht akzeptiert, der gerät in die Neurose. Und die Neurose ist erst dann geheilt, wenn sie den Menschen gezwungen hat, seine falsche Einstellung zum Leben aufzugeben. „Nicht sie (die Neurose) wird geheilt, sondern sie heilt uns.“
Wir müssen uns mit unserer Krankheit aussöhnen, dann liegt darin „das wahre Gold, das wir sonst nirgends gefunden haben“. Jung sieht gerade im Kreuz Jesu Christi einen guten Weg, uns mit unserem Leiden auszusöhnen. Professor Uhsadel, ein evangelischer Theologe, berichtet von einem Gespräch mit C. G. Jung. Jung weist auf das Kreuz in seinem Zimmer und sagt: „Sehen Sie, dies ist doch das Entscheidende ... Der Mensch muss mit dem Problem des Leidens fertig werden. Der östliche Mensch will sich des Leidens entledigen, indem er das Leiden abstreift.
Der abendländische Mensch versucht, das Leiden durch Drogen zu unterdrücken. Aber das Leiden muss überwunden werden, und überwunden wird es nur, indem man es trägt. Das lernen wir allein von ihm.“ Damit wies er auf den Gekreuzigten. Das Kreuz annehmen, das ist nach den Worten Jesu wahres Leben. Das heißt auch: Sich damit aussöhnen, was mic h - gerade im Alter - durchkreuzt, führt immer mehr in das Geheimnis Gottes hinein.
Einübung ins Sterben und Annahme des Leidens - die wichtigsten Aufgaben des Alters - verlangen, dass der Mensch sich aussöhnt mit seiner Krankheit, mit seinem Leiden, mit seinem Tod und dass er seine Vergangenheit loslässt, dass er seinen Beruf, seine Beziehungen, seine Kraft, seine Gesundheit loslässt und sich ganz und gar Gott überlässt.
Annehmen und Loslassen, diese beiden Grundvollzüge jeder Menschwerdung, sind gerade im Alter auf neue und entscheidende Weise gefragt.
LASS VERWANDLUNG GESCHEHEN
'Wir suchen uns oft spirituelle Wege aus, auf denen wir die innere Verwandlung erfahren möchten. Doch oft genug bleiben wir bei unserer Suche in unserem Ego stecken. Es ist unser Weg, unsere Vorstellung von Spiritualität, der wir folgen.
Das Leben verwandelt uns, wenn wir uns ihm stellen. Schau in dein Leben hinein und frage dich: Was hat dich am meisten verwandelt?
Waren es selbst gesuchte Wege? Oder waren es Ereignisse, die dir in die Quere kamen, die dich auf den glühenden Rost legten, bei denen du das Gefühl hattest, nicht mehr weiterleben zu können?
Du musst gar nicht auf die Suche gehen nach dem, was dic h wandelt.
Lass die Verwandlung geschehen, zu der dich das Leben drängt.
IN DEN WUNDEN DAS LEBEN
Dort, wo mich Menschen verletzen und verwunden, dort ist auch der Weg zum wahren Leben, dort erahne ich auch, dass es in mir ein anderes Leben gibt, als vor den Menschen gut dazustehen, dass gerade in meiner Schwäche die Kraft Gottes zur Vollendung kommt. Jeder Mensch hat seine Wunden.
Was sind deine Wunden? Du erkennst sie, wenn du deine empfindlichen Stellen anschaust.
Wo reagierst du unangemessen auf Kritik?
Schaue deine Wunden an und söhne dich mit ihnen aus. Die Wunde öffnet dich für dein wahres Selbst. Die Wunde hält dich lebendig. Sie zwingt dich, weiter an dir zu arbeiten und zu wachsen. Die Wunde verweist dich auf Gott, den wahren Arzt für deine Seele.
Betrachte deine Wunden und entdecke in ihnen das Leben, das in dir strömt.
VERTRAUEN INMITTEN DER ANGST
Der Mönchsvater Evagrius hat verschiedene Methoden entwickelt, wie wir mit unseren Gedanken und Gefühlen umgehen sollen. Da ist einmal die antirrhetische Methode. In die krankmachenden Gedanken sagen wir uns ein Wort aus der Schrift vor,
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