Das Buch der Schatten 1 - Verwandlung
hinter mir her, mein Kleid flatterte mir um die Beine und zeichnete die Umrisse meines Körpers nach.
Allmählich drang mir ins Bewusstsein, dass eine Stimme nach mir rief, eine ängstliche Stimme. Ich zog
eine Bahn um die Stadt, flog wie ein Habicht in Kreisen tiefer und tauchte hinab und schwebte auf starken Luftströmungen, die meinem Körper Auftrieb gaben. Im Wald nördlich der Stadt wurde die Stimme lauter. Ich flog noch tiefer, bis die Spitzen der Bäume praktisch meine Haut streiften. Auf einer Lichtung mitten im Wald sank ich zu Boden, landete elegant auf einem Fuß.
Die Stimme gehörte Bree, und ich folgte ihr in den Wald, bis ich in einen sumpfigen Bereich kam, wo eine unterirdische Quelle träge an die Erdoberfläche sickerte, nicht stark genug, dass ein Wasserlauf entstand, aber auch nicht versiegend. Sie war gerade eben so feucht, dass Moskitos brüten konnten, Pilze gediehen und weicher grüner Schimmel entstand, der im Mondlicht smaragdgrün schimmerte.
Bree steckte im Morast fest, ihr Knöchel wurde von einer knorrigen Wurzel festgehalten. Sie versank ganz langsam, wurde Zentimeter für Zentimeter nach unten gesogen. Bei Sonnenaufgang würde sie im Schlamm ertrunken sein.
Ich streckte die Hand aus. Mein Arm war glatt und stark, silbrig zeichneten sich die Muskeln im Mondlicht unter der Haut ab. Ich packte ihre ausgestreckte Hand, die glitschig war von stinkendem Schlamm, und hörte das saugende Geräusch des Sumpfes um ihren Knöchel.
Bree keuchte vor Schmerz auf, als die Wurzel sich fester um ihren Knöchel zusammenzog. »Ich kann nicht!«, schrie sie. »Es tut so weh!«
Ich winkte mit der freien Hand und runzelte angestrengt die Stirn. Ich spürte den Schmerz in meiner Brust, der mir verriet, dass magische Kräfte am Werk waren. Ich fing an zu keuchen und mein Schweiß fühlte sich kalt an in der Nachtluft. Bree weinte und bat mich, sie loszulassen.
Ich zeigte mit der Hand auf den Morast und befahl den Wurzeln mit all meiner Willenskraft, Bree loszulassen, sich zu entrollen, sich zu strecken und zu öffnen und zu entspannen und sie freizugeben. Die ganze Zeit zog ich fest an ihrer Hand, zog sie heraus, als wäre ich eine Hebamme und Bree würde aus dem Morast geboren.
Dann schrie sie auf, ihr Gesicht brannte und mühelos stiegen wir zusammen in die Luft. Ihr Kleid und ihre Beine waren mit dunklem Schlamm bedeckt und durch unsere miteinander verschränkten Hände spürte ich den pochenden Schmerz in ihrem Knöchel. Aber sie war frei. Ich flog mit ihr zum Waldrand und setzte sie dort ab. Dann stieg ich wieder auf, ließ sie dort zurück. Weinend vor Erleichterung, sah sie mir hinterher, wie ich immer höher in den Himmel aufstieg, immer höher, bis ich nur noch ein winziger Fleck war und die Morgendämmerung anbrach.
Dann war ich in einem dunklen, grob umrissenen Raum, wie in einer Scheune. Ich war ein Säugling. Baby Morgan. Eine Frau saß auf einem Strohballen und hielt mich in den Armen. Es war nicht meine Mom, doch sie wiegte mich und sagte immer wieder: »Mein Baby.« Ich betrachtete sie mit meinen runden Babyaugen und liebte sie und spürte ihre Liebe.
Zitternd und erschöpft wachte ich auf. Mir war, als kämpfte ich gegen eine Erkältung an, als könnte ich mich hinlegen und hundert Jahre schlafen.
»Geht’s dir besser?«, fragte Mary K. am Nachmittag. Ich war gegen Mittag aufgestanden, hatte mich angezogen und im Haus herumgewirtschaftet, Wäsche gewaschen und den Recycling-Müll rausgebracht.
Ich dachte daran, dass Cal und Bree und die anderen sich am Abend zu einem Kreisritual treffen würden, und sehnte mich danach, daran teilzunehmen. Nach dem, was am Vortag passiert war, rechnete Cal vermutlich fest mit mir. Ich musste hingehen.
»Ja«, antwortete ich Mary K. und nahm das Telefon, um Bree anzurufen. »Ich hab nur schlecht geschlafen und bin mit Kopfschmerzen aufgewacht.«
Mary K. rührte sich einen Kakao an und stellte ihn in die Mikrowelle. »Ja? Dann ist alles in Ordnung?«
»Klar. Warum?«
Sie lehnte sich an die Arbeitsplatte und wartete auf
ihre heiße Schokolade. »Ich habe in letzter Zeit das Gefühl, es ist irgendwas los«, sagte sie.
Ich klemmte mir das Telefon, ohne zu wählen, zwischen Schulter und Ohr. »Zum Beispiel?«
»Na ja, ich habe plötzlich das Gefühl, du machst Sachen, über die ich nichts weiß«, sagte Mary K. »Nicht dass ich alles über dein Leben wissen müsste«, fügte sie hastig hinzu. »Du bist älter, du hast immer andere Sachen
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