Das Buch der Schatten 1 - Verwandlung
beängstigend in seiner Macht. Ich gelobe auf dieses Buch der Schatten, dass ich sie gefunden habe. Ich hatte recht. Gesegnet sei.
An diesem Abend kam ganz unerwartet Tante Eileen zum Abendessen. Nach dem Essen gesellte sie sich zu mir in die Küche und half mir beim Aufräumen.
Als ich die Reste von den Tellern in den Abfalleimer kratzte, platzte es wie aus dem Nichts aus mir heraus: »Woher hast du gewusst, dass du lesbisch bist?«
Ihr Blick verriet mir, dass sie genauso überrascht war über meine Frage wie ich. »Tut mir leid«, fügte ich schnell hinzu. »Vergiss, dass ich gefragt habe. Es geht mich nichts an.«
»Nein, es ist okay«, sagte sie und überlegte. »Das ist
doch eine ganz legitime Frage.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Ich glaube, ich habe die ganze Zeit schon gespürt, dass ich irgendwie anders war. Also, ich fühlte mich nicht wie ein Junge oder so. Ich wusste, dass ich ein Mädchen war, und fand das auch in Ordnung. Aber ich kam einfach nicht dahinter, wozu Jungen gut sein sollten.« Sie rümpfte die Nase, und ich lachte.
»Aber dass ich lesbisch bin, begriff ich, glaube ich, erst, als ich ungefähr in der achten Klasse war«, fuhr sie fort, »und mich verknallte.«
Ich schaute auf. »In ein Mädchen.«
»Ja. Sie empfand natürlich nicht dasselbe für mich – und ich habe es ihr nie erzählt oder es sie irgendwie spüren lassen. Ich war unglaublich schüchtern. Ich kam mir vor wie eine Irre. Ich hatte das Gefühl, mit mir stimmte etwas ganz und gar nicht, ich bräuchte Beratung oder Hilfe. Vielleicht sogar Medizin.«
»Wie schrecklich«, sagte ich.
»Erst auf dem College fand ich mich damit ab und konnte mir selbst und der Welt gegenüber offen eingestehen, dass ich lesbisch bin. Ich war bei einem Therapeuten, und er half mir dabei einzusehen, dass mit mir wirklich alles in Ordnung ist. Ich bin einfach so, wie ich bin.«
Tante Eileen zog ein schiefes Gesicht. »Es war nicht leicht. Meine Eltern – deine Oma und dein Opa – waren
empört und entsetzt. Sie sind nicht damit klargekommen. Sie waren unglaublich enttäuscht von mir. Es ist hart, weißt du, wenn man seine eigenen Eltern mit dem, wie man ist, wie man auf die Welt gekommen ist, dermaßen verwirrt und aus der Fassung bringt.«
Ich schwieg, doch das, was sie da sagte, kam mir irgendwie bekannt vor.
»Sie haben mir das Leben richtig schwer gemacht. Nicht weil sie gemein waren oder mich nicht liebten, sondern weil sie nicht wussten, wie sie sonst reagieren sollten. Inzwischen kommen sie viel besser damit klar, aber ich bin immer noch nicht unbedingt das, was sie sich von mir erhofft haben. Sie wollen nie mit mir darüber reden, dass ich lesbisch bin, und fragen auch nie nach meiner Lebensgefährtin. Die reine Verleugnung. « Tante Eileen zuckte die Achseln. »Dagegen bin ich machtlos. Aber ich weiß inzwischen, je mehr ich es akzeptiere und mich so akzeptiere, wie ich bin, desto weniger Spannungen habe ich im Rest meines Lebens und desto weniger gestresst und unglücklich bin ich.«
Ich sah sie voller Bewunderung an. »Du hast es weit gebracht, Baby«, sagte ich, und sie lachte. Dann legte sie mir den Arm um die Schulter und drückte mich.
»Gott sei Dank gibt es deine Mutter und deinen Vater und dich und Mary K.«, sagte sie mit Nachdruck. »Ich weiß nicht, was ich ohne euch machen würde.«
Den Rest des Abends saß ich auf dem Teppich in
meinem Zimmer und dachte nach. Ich wusste, dass ich nicht lesbisch war, aber ich verstand, was meine Tante empfand. Mir ging es auch so, mir wurde immer deutlicher bewusst, dass ich anders war als meine Familie und sogar als meine Freunde, dass ich mich stark zu etwas hingezogen fühlte, was sie nicht akzeptieren konnten.
Ein Teil von mir hatte das Gefühl, wenn ich dem nachgab und eine Hexe wurde, wäre ich entspannter, natürlicher, mächtiger und selbstbewusster, als ich mich je in meinem Leben gefühlt hatte. Doch ein Teil von mir wusste auch, dass ich den Menschen, die ich am meisten liebte, sehr wehtun würde, wenn ich dies tat.
In dieser Nacht hatte ich einen entsetzlichen Traum.
Es war Nacht. Der Himmel war von breiten Streifen Mondlicht durchzogen, das auberginefarben, taubengrau und indigoblau auf den Wolken schimmerte. Die Luft war kalt, und ich spürte die frische Brise auf meinem Gesicht und auf meinen nackten Armen, als ich über Widow’s Vale flog. Es war wunderschön da oben, ruhig und friedlich, der Wind rauschte in meinen Ohren, mein langes Haar wehte
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