Das Buch der Schatten 2
sterben.
– Bradhadair
Als ich an diesem Abend nach Hause kam, hatten meine Eltern schon das Licht gelöscht, und falls der Motorenlärm meines Autos sie weckte, dann bekam ich nichts davon mit. Mary K. hatte auf mich gewartet, sie war in ihrem Zimmer und hörte Musik. Sie blickte auf und setzte den Kopfhörer ab, als ich den Kopf zu ihr hineinsteckte.
»Hi«, sagte ich, von einer tiefen Liebe zu ihr erfüllt. Schließlich war sie immer meine Schwester gewesen, wenn nicht durch Blutsverwandtschaft, dann doch durch die Umstände. Es tat mir leid, dass ich ihr wehgetan hatte.
»Wo warst du?«, fragte sie.
»Bei Cal. Er war nicht zu Hause, aber ich habe mich mit seiner Mutter unterhalten.«
Mary K. machte eine Pause. »Es war schrecklich, nachdem du weg warst. Ich dachte, Mom würde in Tränen ausbrechen. Alle waren ganz beschämt.«
»Es tut mir leid«, sagte ich ehrlich und meinte es auch so. »Aber ich kann es einfach nicht fassen, dass Mom und Dad das mein ganzes Leben lang für sich behalten haben. Sie haben mich angelogen.« Ich schüttelte den Kopf. »Heute Abend wurde mir klar, dass Tante Eileen und unsere anderen Verwandten und auch Moms und Dads Freunde … dass alle wissen, dass ich adoptiert bin. Ich komme mir so blöd vor, dass ich es nicht wusste. Ich war einfach … wütend, dass sie es mir
nicht gesagt haben, wo all die anderen doch darüber Bescheid wissen.«
»Ja, daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte Mary K. und runzelte ein wenig die Stirn. »Aber du hast recht. Alle wissen es.« Sie sah mich an. »Ich hab’s nicht gewusst. Das glaubst du mir doch, oder?«
Ich nickte. »Ausgeschlossen, dass du so ein Geheimnis für dich behalten könntest.« Ich lächelte, als Mary K. ihr Kissen nach mir warf.
Die Decke aus Frieden, Verzeihen und Liebe, in die Selene Belltower mich eingehüllt hatte, umgab mich immer noch wie eine tröstliche Umarmung. »Hör zu, für eine Weile wird es bestimmt ziemlich schrecklich. Mom und Dad müssen mir von meiner Vergangenheit erzählen und wie es dazu kam, dass sie mich adoptiert haben. Ich kann erst aufhören zu bohren, wenn ich es weiß. Aber das heißt nicht, dass ich dich oder sie nicht liebe. Irgendwie schaffen wir das schon«, sagte ich.
Unsicherheit spiegelte sich in Mary K.s hübschem Gesicht. »Okay«, sagte sie dann aber.
»Ich freue mich für Tante Eileen und Paula«, wechselte ich das Thema.
»Ich auch. Ich wollte nicht, dass Tante Eileen noch länger allein ist«, sagte Mary K. »Glaubst du, sie kriegen Kinder?«
Ich lachte. »Eins nach dem anderen. Erst mal müssen sie eine Weile zusammenleben. «
»Ja. Oh, na klar. Ich bin müde.« Mary K. nahm ihren Kopfhörer und legte ihn auf den Boden.
»Hier, lass mich das für dich machen.« Behutsam zeichnete ich ihr die Rune für Trost auf die Stirn, so wie Selene es mir gezeigt hatte. Ich spürte, wie die Wärme aus meinen Fingerspitzen floss, und trat zurück. Mary K. sah mich unglücklich an.
»Bitte, mach das nicht«, flüsterte sie. »Ich will nichts damit zu tun haben.«
Zuerst blinzelte ich verletzt, dann nickte ich. »Ja, klar«, murmelte ich, drehte mich um und floh bestürzt in mein Zimmer. Etwas, das mir große Freude bereitete, verunsicherte meine Schwester sichtlich. Ein klares Zeichen für die Unterschiede zwischen uns, die wachsende Kluft, die sie in eine Richtung drängte und mich in eine andere.
In dieser Nacht schlief ich tief und traumlos und fühlte mich beim Aufwachen richtig gut. Ich legte die Hände zusammen, als könnte ich die Sigille, die dort gezeichnet worden war, noch sehen: Daeg. Eine neue Morgendämmerung. Erwachen.
»Morgan?«, rief Mary K. aus dem Flur. »Komm schon. Schule. «
Ich war schon dabei, meine Füße in die Pantoffeln zu schieben. Ohne Zweifel war ich spät dran – wie immer. Ich duschte eilig, stieg hastig in ein paar Klamotten und
polterte die Treppe hinunter, meine nassen Haare hingen mir wie ein Seil um den Hals und würgten mich förmlich. In der Küche schnappte ich mir einen Müsliriegel, bereit, zur Tür hinauszuschießen. Mary K. blickte ruhig von ihrem Orangensaft auf.
»Keine Eile«, sagte sie. »Heute ist es mir endlich mal gelungen, dich früh genug aus dem Bett zu kriegen. Letzten Monat bin ich zweimal zu spät gekommen.«
Mit offenem Mund sah ich auf die Uhr. Die Schule fing erst in fünfundvierzig Minuten an! Ich sank auf einen Stuhl und wies verzweifelt auf den Kühlschrank.
Meine Schwester hatte Mitleid und holte
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