Das Buch der Schatten 2
wenn du reden möchtest.«
Er stand auf. Dann legte er mir ganz behutsam die Hand an die Wange, berührte mich kaum mit seinen Fingerspitzen. Er schloss die Augen und murmelte etwas, was ich nicht verstand. Ich schloss ebenfalls die Augen und spürte, wie die Hitze seiner Fingerspitzen mein Gesicht wärmte. Als ich einatmete, verflog ein Teil der Schmerzen.
Es dauerte keine Minute, dann öffnete er die Augen und trat zurück. Ich fühlte mich schon viel besser.
»Danke«, sagte ich. »Danke, dass du gekommen bist.«
»Wir reden nachher«, sagte er. Dann drehte er sich um und verließ mein Zimmer.
Als ich wieder in mein Bett sank, fühlte sich mein Gesicht irgendwie leichter an und nicht mehr so geschwollen. Auch der Kopf tat mir nicht mehr so weh. Ich öffnete das Arnicafläschchen und steckte mir vier winzige Globuli unter die Zunge. Dann lag ich ruhig da und spürte, wie der Schmerz langsam nachließ.
Als ich am Abend schlafen ging, waren meine blauen Augen fast verschwunden, die Schwellung war merklich zurückgegangen, und ich hatte das Gefühl, ich konnte wieder besser durch die Nase atmen.
Am nächsten Tag ging ich nicht zur Schule, obwohl ich, bis auf den hässlichen schwarzen Stich an der Lippe, schon tausendmal besser aussah.
Nachmittags um halb drei rief ich Mom auf der Arbeit an und sagte ihr, ich würde rüber zu Tamara gehen, um zu sehen, was wir an Hausaufgaben aufhätten.
»Fühlst du dich dafür wirklich schon fit genug?«
»Ja, mir geht’s ganz gut«, sagte ich. »Vor dem Abendessen bin ich wieder da.«
»Okay. Fahr vorsichtig.«
»Mach ich.«
Ich legte auf, holte meine Schlüssel und meinen Mantel, zog meine Schuhe an und machte mich auf den Weg zur Schule. Einen großen weißen Wal wie Das Boot zu verstecken ist so gut wie unmöglich, trotzdem parkte ich zwei Blocks weiter in einer Seitenstraße, wo ich davon ausging, dass ich Brees Auto sehen konnte, wenn sie von der Schule wegfuhr. Ich hätte bei ihr zu Hause auf sie warten können, aber ich war mir nicht sicher, ob sie gleich heimfuhr.
Es war nicht so, als hätte ich einen gut durchdachten Plan gehabt. Im Grunde hoffte ich, Bree zu konfrontieren und mich mit ihr auszusprechen. In der besten aller möglichen Welten würde es zu einem positiven Ergebnis führen. Ich hatte das Gefühl, bei meinen Eltern einen Durchbruch erzielt zu haben, und Mary K. und ich waren uns nach dem Vorfall mit Bakker auch wieder nähergekommen. Jetzt wollte ich die Sache mit Bree bereinigen. Lebenslange Gewohnheiten sind schwer abzulegen und ich betrachtete sie immer noch als meine beste Freundin. Sie zu hassen war mir einfach unerträglich. Die Szene in der Turnhalle hatte nur gezeigt, dass wir die Sache unbedingt klären mussten.
Aber es war mehr als das. Ich hatte auch noch andere Gründe, die Dinge zwischen uns in Ordnung zu bringen. Magie war Klarheit. Aus meinen Büchern hatte ich gelernt, dass man Magie am besten ausüben konnte, wenn man Klarheit hatte. Wenn in meinem Leben ein
anhaltender Streit schwelte, konnte mich das bei der Ausübung von Magie behindern.
Fast hätte ich Brees Auto übersehen, als es am Ende des Blocks an der Ecke vorbeifuhr. Ich warf rasch den Motor an und fuhr mit möglichst großem Abstand hinter ihr her.
Zum Glück fuhr Bree direkt nach Hause, und den Weg kannte ich so gut, dass ich mich ziemlich weit hinter andere Autos zurückfallen lassen konnte. Sobald sie in ihre Einfahrt gebogen war und das Auto abgestellt hatte, hielt ich am Ende des Blocks am Straßenrand hinter einem großen kastanienbraunen Minivan und machte den Motor aus.
Doch gerade als ich aussteigen wollte, fuhr Raven in ihrem zerbeulten schwarzen Peugeot vor. Bree kam aus dem Haus gelaufen.
Ich wartete. Die beiden unterhielten sich eine Weile auf dem Bürgersteig, dann gingen sie zu Ravens Auto und stiegen ein. Raven bretterte davon, einen Schweif stinkender Abgase hinter sich her ziehend.
Ich war ratlos. Damit hatte ich nicht gerechnet. Eigentlich hätte ich jetzt mit Bree reden sollen, möglicherweise auch streiten. Raven hatte da nicht ins Bild gepasst. Wohin fuhren sie?
Plötzlich wurde ich von starker Neugier gepackt und machte den Motor wieder an. Nach vier Blocks hatte ich sie eingeholt. Sie fuhren auf der Westwood in Richtung
Norden, also aus der Stadt hinaus. Ich folgte ihnen, und ich hatte auch schon einen Verdacht, wo sie hinwollten.
Als sie die Maisfelder am nördlichen Stadtrand erreichten, wo unser Hexenzirkel sein erstes Treffen
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