Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
bediente. Sanfte Klänge, die er noch nie vernommen hatte, erfüllten den Saal. Langsam wurden die zarten Töne lauter, härter. Aus der leisen Melodie, die sich eindeutig nach einem Klagelied anhörte, entwickelte sich eine immer lauterwerdende, beinahe dröhnende Passage. Ohrenbetäubend schallte es von allen Seiten wider. Aus der anfänglich kläglichen Melodie hatte sich ein anklagender Choral entwickelt, der sich jedoch nach wenigen Tonfolgen wieder in eine klägliche Melodie verwandelte. Leise, sanft vollendeten die Klänge, bis sie kaum hörbar in sich erstarben. Schweigsamkeit herrschte in der Kirche. Die meisterhaft gespielte Musik hatte großen Eindruck hinterlassen. Bis auf Dumpkin, der sich unruhig auf seinem Sitzplatz hin und her bewegte. Melanie war der Grund dafür. Wieder saß sie in derselben Reihe. Nur der Gang trennte sie voneinander. Mit halboffenen Mund starrte sie vor sich hin. Die Musik hatte starke Regungen in ihr geweckt. Dumpkin war es, als sehe er eine Träne über ihre Wangen rollen. Im stillen verfluchte er denjenigen, der die Orgel bedient hatte.
Plötzlich machte sich ein lautes Geräusch über ihnen bemerkbar. Der Organist war von seinem Schemel aufgestanden. Dabei rückte dieser auf den Holzdielen entlang. Das Geräusch war in der gesamten Kirche zu vernehmen. Sämtliche Blicke richteten sich auf die Stufen, die zu der Galerie emporführten. Noch stiller schien es geworden zu sein. Mit Spannung warteten sie, wer die Stufen hinuntergeschritten kam. Das einzige Geräusch war das Knarren der Holztritte. Langsam bewegte sich der Unbekannte nach unten. Tritt für Tritt. Richmon machte mehrere Schritte zurück. Schwester Maria fiel ein Stein vom Herzen, als sie Rouven erblickte. Dumpkins Gesichtszüge entstellten sich vor Haß und Zorn, als er bemerkte, wie Melanie jede Bewegung Rouvens verfolgte. Mit gesenktem Kopf kam er auf den Mittelgang zu. Melanie ließ ihn nicht aus den Augen. Bewundernd strahlte sie Rouven entgegen. Dumpkin mußte sich beherrschen, als Rouven dicht an ihm vorbeischritt. Rouven blickte weder nach links, noch nach rechts. Neben Schwester Maria setzte er sich auf den freien Platz. Einnehmend nahm sie Rouven in den Arm. Richmon hatte sich zwischenzeitlich wieder gefaßt. Er versuchte Rouven zu ignorieren. Dumpkin konnte Melanie nicht aus den Augen lassen. Sie schien sich nur noch für Rouven zu interessieren. Ein leichter Stoß auf seine Schulter riß ihn aus seiner Betroffenheit. Showy, der neben ihm saß, machte ihn auf Ellinoy aufmerkam, der etwas vornübergebeugt zu ihm blickte.
„Es wird Zeit, daß wir dem Knaben mal ’nen Dämpfer verpassen“, raunte er ihm zu. Dumpkins Augenbrauen zogen sich zusammen. Die Wut hatte ihm die Kehle zugeschnürt. Er brachte es nur zu einem grimmigen Nicken.
„Ist dir aufgefallen, daß Sallivan nirgends zu sehen ist?“ flüsterte Ellinoy weiter. Dumpkin suchte die vorderen Reihen ab. Erstaunt über Sallivans Fehlen sah er wieder auf Ellinoy.
„Meinst du –?“ erschrak er über seinen eigenen Gedanken.
„Diesem Mistkerl trau ich alles zu“, zischte Ellinoy. „Wenn er uns gefolgt ist, was dann?“
Showy hatte aufmerksam zugehört. Eiskalt lief es ihm über den Rücken, wenn er daran dachte, daß Ellinoys Vermutung zutreffen könnte.
Richmon gab das Zeichen zum Aufstehen. Nacheinander erhoben sich die Schüler. Ihre kurze Unterhaltung wurde auseinandergerissen.
Als wieder Ruhe in der Kirche eingetreten war, atmete Richmon hörbar tief durch.
„Ich bitte um absolutes Schweigen, wenn wir uns nun auf den Weg zum Friedhof begeben.“ Richmons Stimme vibrierte ein wenig. Er faltete seine Hände zum Gebet zusammen, senkte seinen Kopf und sprach leise vor sich hin. Die Lehrer und Schüler folgten seinem Beispiel. Dumpkin warf immer wieder einen Blick zu Melanie hinüber. Nur zum Schein hielt er seine Hände gefaltet.
Richmon schritt langsam auf den Mittelgang zu. Glockengeläute unterstrich die trauernde Haltung des Paters. Nacheinander folgten sie ihm. Die Lehrer zuerst. Dann Reihe für Reihe. Schweigsam, wie Richmon es erbeten hatte. Bis hin zur letzten Sitzbank. Dumpkin paßte den Augenblick ab, in dem Melanie ihren Platz verließ. Ihre Blicke trafen sich, wie zufällig. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. Dumpkin schoß das Blut in den Kopf.
„He – y“, brachte er gerade noch hervor.
„Hey, Dumpkin“, flüsterte Melanie zurück. Das war alles. Sie machte einen Schritt vor und schloß sich den anderen an. Das
Weitere Kostenlose Bücher