Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
ihn Ellinoy verwundert an.
„Rotschopf“, erwiderte Champy. „Er ist nicht da.“
Ellinoy ließ seinen Blick von Bankreihe zu Bankreihe schweifen.
„Du hast recht“, stellte er nach kurzer Zeit selber fest. „Würde mich interessieren, wo er ist.“
„Sallivan ist auch nicht hier“, bemerkte Champy weiter. „Ich hab aufgepaßt. Er ist nicht dabei.“ Ellinoy wollte etwas erwidern, in diesem Moment betrat Pater Richmon den Altarbereich durch den Eingang des Turmes. Alle erhoben sich. Gleichzeitig begannen die Glocken zu läuten. Trauerglocken. Jeremies Beerdigung wurde angeläutet.
Über dem Altar war wieder ein Tuch gelegt. Diesmal ein schwarzes Tuch, das noch einiges von dem Steinboden bedeckte. Zwei Kerzenleuchter standen links und rechts neben dem Gebetbuch. Mit gesenktem Haupt schritt Richmon darauf zu. Sein weißes Gewand war mit einem breiten schwarzen Band zusammengehalten. Das Zeichen der Trauer. Den Rücken dem Saal zugewendet blieb er längere Zeit stehen. Das Läuten der Glocken verklang. Keiner der Anwesenden getraute sich ein Wort zu sagen. Auch Ellinoy nicht, der Dumpkin auf das Fehlen von Rotschopf und Sallivan aufmerksam machen wollte.
Richmon wandte sich um. Von weitem konnte nicht gesehen werden, daß seine Augen tief versunken lagen. Auffällig wanderte sein Blick über die Köpfe hinweg.
„Wir haben uns heute versammelt, um unserem Mitschüler Jeremie Unsold die letzte Ehre zu erweisen.“ Die Stimme des Paters klang verändert. Ein rauher Unterton hatte sich daruntergemischt. Mit einer kurzen Handbewegung gab er das Zeichen, sich wieder setzen zu dürfen. „Ein tragischer Unfall hat sich ereignet“, sprach Richmon unvermindert weiter. „Ein Unfall, der sich tief in unseren Herzen eingenistet hat. Unerwartet, von niemandem zu begreifen, was sich vor wenigen Tagen zugetragen hat. Jeremie, noch nicht einmal in der Blüte seines Lebens, mußte sterben. Warum? – Oft habe ich mir diese Frage gestellt. Oft habe ich über den Sinn seines Lebens nachgedacht. Sein Leben war kurz, aber nicht ohne Bedeutung. Wenn auch niemand diese Worte zu verstehen vermag, der Tod von Jeremie hatte seinen bestimmten tiefen, vielleicht unergründlichen Sinn. Trauer ist das einzige, das mein Inneres bewegt. Trauer um einen Jungen, der niemandem etwas Böses getan hat. Trauer in das Unermeßliche.“ Richmon machte eine Pause. Längere Zeit blickte er nur auf den Boden. Die Hände hielt er dabei zusammengefaltet. Unheimliche Stille herrschte in der Kirche.
„Heute, an diesem Tage, zu dieser Stunde wollen wir seiner gedenken. Unseres lieben Mitschülers Jeremie, niemals darf er von uns in Vergessenheit geraten. Ist sein Tod vielleicht eine Warnung an uns? Ich weiß es nicht. War nicht der Unfall von unserem Mitschüler Arth Champ ein tragisches Schicksal genug?“ Sämtliche Köpfe wandten sich auf Champy. In diesem Moment hätte Champy im Boden versinken mögen.
„Warnen möchte ich euch. An dieser Stelle möchte ich euch auf eine Gefahr hinweisen, die selbst mir unbegreiflich erscheint. Bestimmt habt ihr, meine lieben Schüler, euch über das Ausgangsverbot Gedanken gemacht. Vielleicht habt ihr euch auch darüber geärgert. Einige zumindest. Auf gar keinen Fall möchte ich euch beunruhigen, dennoch muß es gesagt sein. Nehmt euch in acht. Ich bitte euch, geht niemals wieder allein ins Freie. Fragt nicht danach. Macht euch darüber keine Gedanken. Gott wird immer auf eurer Seite sein. Auch wenn ihr Dinge seht, die euch vielleicht erschrecken. Denkt an Gott. Denkt an ihn, und ihr werdet nicht verlassen sein. Nun laßt uns beten für Jeremie. Gedenket seiner, wie ihr eurer besten Freunde gedenkt. Oder diesem, das euch am nächsten erscheint.“ Bei diesen Worten ließ Richmon seinen Blick über die letzte Bankreihe gleiten. Dumpkin war es, als würden sich ihre Blicke für einen Moment treffen.
An dieser Stelle würde normalerweise leise Orgelmusik ertönen. Schwester Maria hatte darum gebeten, darauf verzichten zu dürfen. Sie war nicht in der Verfassung, ihre Finger über die Tasten gleiten zu lassen. Dennoch klangen leise Töne aus den Orgelpfeifen. Erschrocken wandte sich Schwester Maria in die Richtung des Instrumentes. Dieses befand sich oberhalb der letzten Sitzreihe auf einer kleinen Galerie. Von den unteren Plätzen aus konnten nur die mächtigen Pfeifen gesehen werden, hinter denen sich die Tastatur befand. Pater Richmon zuckte unmerklich zusammen. Ihm war es ein Rätsel, wer die Tasten
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