Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Lautlos drückte er sie zu. Mit dem Rücken lehnte er sich dagegen. Schweiß perlte von seiner Stirn. Langsam ließ Goodman seinen Blick durch den Raum schweifen. Stück für Stück begann er ihn zu untersuchen. Auf dem Schreibtisch blieb sein Blick haften. Goodman war sich sicher, den Foliant nicht gesehen zu haben, als er das Licht angeknipst hatte. Er war sich sicher, daß es nicht dagewesen war. Nun lag es auf seinem Tisch. Die Chronik des Klosters, deren Platz eigentlich in der Kirche war. Aufgeschlagen lag sie vor ihm. Nur zögernd näherte Goodman sich seinem Schreibtisch. Sein Herzschlag pochte, schlug mit doppelter Stärke, je mehr er sich dem Foliant näherte. Noch zaghafter setzte er sich in den Sessel. Zitternd klemmte er sein Monokel in das Auge. Das letzte beschriebene Blatt war aufgeschlagen. Das Licht spiegelte sich in der Schrift wider. Sie war noch feucht. Goodman erkannte, daß das Blatt erst vor Minuten beschrieben worden war.
Es ist die Zeit der Wahrheit, die letzten Stunden dieser Zeit. Pontakus ist ein Narr. Er will sie retten, diese Erde. Retten vor der Wahrheit, die er niedergeschrieben hat. Wiederkommen will er. Wiederkommen, um sein Werk zu vollbringen. Dieser Narr. Niemals hat er begreifen mögen, daß das Böse der Ursprung des Daseins ist. Das Böse, das Immerwiederkehrende. Das Böse –.
An dieser Stelle endete das Geschriebene. Abrupt, als sei der Verfasser unterbrochen worden.
Goodman las die Zeilen wieder und wieder, bis er sich nach langer Zeit in den Sessel zurücklehnte. Sein Gesicht schien um das doppelte gealtert zu sein. Falte um Falte durchzog seine Haut.
„Bifezius“, hauchte er nur. Das Monokel rutschte aus seinem Auge, baumelte an der goldenen Kette, die mittels einer Brosche an seiner Jacke befestigt war.
Lange verharrte er in dieser Stellung, bis er sich langsam aufraffte. Seine Finger tasteten sich an dem Schreibtisch entlang. Rechter Hand befanden sich Schubladen. An diesen ließ er seine Hand hinuntergleiten. Die unterste Schublade begann er zu öffnen. Nur ein Stück, so daß er hineingreifen konnte. Goodman hatte keine Gewalt mehr über seine Finger. Allergrößte Anstrengung kostete es ihn, das Kuvert auf den Tisch zu legen, ohne es aus den Fingern gleiten zu lassen. Fiebrig zog er zwei dichtbeschriebene Blätter daraus hervor. Noch mehr Mühe kostete es ihn, das Monokel wieder in das Auge zu stecken. Der Brief war an Rouven gerichtet. Schon viele Male hatte Goodman ihn gelesen, obwohl er erst am Morgen, zusammen mit dem Telegramm, eingetroffen war. Doch jetzt erst begriff er, was der Inhalt zu bedeuten hatte. Goodman hatte nie die Absicht gehabt, ihn Rouven auszuhändigen. Schon bei dem ersten Brief, dessen Inhalt er nicht kannte, war er nahe daran, ihn Rouven zu unterschlagen.
Lieber Rouven, mein Junge,
ich hoffe sehr, daß Du dieses Schreiben bekommst. Diese Worte werden Dich sehr hart treffen, Rouven. Dennoch mußte es sein, daß ich sie Dir schreibe.
Seitdem Du nun in diesem Internat bist, Rouven, ist sehr, sehr vieles geschehen. Nun muß ich davon ausgehen, daß Dich mein erster Brief erreicht hat. Darin habe ich ein Buch erwähnt, welches Du unbedingt an Dich nehmen mußt. Das Buch der Schatten, das ein Mönch vor langer, langer Zeit niedergeschrieben hat. Hoffentlich hattest Du meine Worte richtig gedeutet. Bitte hasse mich jetzt nicht, wenn ich Dir nun sage, daß ich zwischenzeitlich wieder in dem Internat gewesen bin. Die Briefe, ich habe sie selbst gebracht. Hatte sie jedoch zuvor auf der Post stempeln lassen, da ich sicher gehen wollte.
In jener Nacht habe ich etwas sehr Schreckliches beobachtet. Ich hatte den Brief vor den Eingang des Hauses, in dem sich das Rektorat befindet, hingelegt. Ein Junge, ich glaube es war ein Chinese, wollte den Brief an sich nehmen. Auf einmal, ich konnte nicht genau sehen wie es geschah, schnellte eine Hand wie aus dem Nichts hervor. Sie packte den Jungen an einem Finger. Die Hand hatte zentimeterlange Fingernägel. Ich glaube, damit hatte er dem Jungen den Finger abgerissen. Plötzlich waren die Hand und der Brief verschwunden. Der Junge ist schreiend davongerannt. Den zweiten Brief habe ich in das Gebäude gelegt. Als ich dann das Internat wieder verlassen wollte, lag plötzlich der verschwundene Brief vor dem großen Holztor. Ich versuchte nicht darüber nachzudenken und warf diesen einfach in den Briefkasten. Plötzlich hörte ich hinter mir meinen Namen flüstern. Erschrocken darüber drehte ich mich um.
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