Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Etwas Unmenschliches stand vor mir. Ich kann es Dir nicht beschreiben. Es sah mich an, obwohl es keine Augen hatte. Nur dunkle Löcher, die mich anblickten. Und dann sah ich sie wieder, diese Hand. Ich weiß nicht warum, aber mehrmals begann ich mich zu bekreuzigen. Irgendwie mußte es geholfen haben, denn auf einmal war es spurlos verschwunden. Aber seither verfolgt mich dieses Gesicht. Diese dunklen Löcher, in die ich geblickt hatte. Das Gesicht war irgendwie mit vielen kleinen Fasern überzogen. Genauso der Schädel und die Arme. An den Körper kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber das, was ich gesehen hatte, war blutrot ... –
An dieser Stelle lehnte sich Goodman in den Sessel zurück. Seine Hände waren klatschnaß, doch das Zittern hatte sich gelegt. Mehrmals atmete er tief durch die Nasenflügel, worauf er fieberig weiterlas.
... Jede Nacht kommt es wieder, dieses Gesicht. Obwohl es nicht da ist, blickt es mich ständig an. Wie ein Fluch lastet es auf mir. Wie ein Fluch, der mich Stück für Stück auffressen will. Es versperrt meine sämtlichen Gedanken. Nur noch dieses schreckliche Gesicht. Es hat mich, Rouven. Es hat Besitz von mir genommen. Besitz von meiner Seele. Nun kann ich Dir nicht mehr behilflich sein, Rouven. Solange dieses, ich weiß nicht was es ist, mich besitzt, bin ich nutzlos. Hoffentlich verstehst Du mich. Ich kann Dir nicht mehr helfen. Meine Träume sind zu weit entfernt. Jemand versucht sie mir zu stehlen. Dieses Gesicht, dieses schreckliche Gesicht. Nun bist Du auf Dich allein gestellt, Rouven. Vollende es. Vollende es und nimm Dich in acht vor diesem Gesicht. Blicke niemals hinein. Das Böse, es ist das Böse, das sich, ich weiß nicht wie ich sagen soll, das sich personifiziert hat. Wende Dich an das Buch. Lese es! Lese es, Rouven, denn nur Du bist dafür geschaffen. Solltest Du es nicht besitzen, Rouven, sollte das eingetreten sein, vor dem ich Dich gewarnt habe, dann ist es vielleicht zu spät. Dann nehmen die Dinge ihren Lauf. Vielleicht ist es schon in greifbarer Nähe? Rouven, ich bitte Dich, tu alles, um es zu verhindern. Überwinde Dich und vernichte es, das Böse. Vernichte es. Lies das Buch! Lies es! Dein Weg steht darin niedergeschrieben. Halte ihn Dir vor Augen und achte dabei nicht auf Gefahr.
Helfe Gott, wenn Du keinen Erfolg hast. Helfe Gott jenen, die ahnungslos ins offene Messer rennen.
Rouven, nun ist meine Kraft zu Ende. Wenn Du diesen Brief erhältst, werde ich wahrscheinlich nicht mehr sein. Mein Ende naht, Rouven. Mein Ende, selbst werde ich es mir zufügen. Ich habe versagt. Das Böse, bevor es mich vollends besitzt, werde ich fliehen. Bitte, mein lieber, lieber Junge. Bitte vergiß mich nicht. Immer habe ich Dich geliebt. Bis zum letzten Augenblick.
Langsam steckte Goodman den Brief zurück in das Kuvert. Er schien auf einmal ruhig geworden zu sein. Das Blasse aus seinem Gesicht war verschwunden. Seine Hände zitterten nicht mehr.
Tödlich funkelten seine Augen, als er den Umschlag auf den Tisch zurücklegte. Die unheimliche Begegnung, sie war wie weggeblasen. Goodman verfolgte nur noch einen Gedanken. Seinen Gedanken, seine Hoffnung, an die er sich mit Überzeugung klammerte. Die Vernichtung des Unheils durch die Vernichtung des Buches – und Rouven, dem er die Schuld an all dem anlastete.
*
Am Aufgehen des feuerroten Balles wird das Dunkel verdrängt. Das Dunkel, die Zeit der Träume, die Zeit der jenseitlichen Stunden. Vieles wird während dieser Zeit geschehen, das sich in manchem Antlitz widerspiegeln wird. Niemand weiß, welches nun diese dunkle Seite ist. Niemand weiß, was Traum oder Nichttraum in unserem Dasein ist. Alles könnte anders sein, und doch nicht so wie es ist. Ist es nicht die Sonne, die über uns hinweg wandert, dann ist es der Mond, der sein Licht nur einmal voll von sich gibt. Anders ist, wir drehen uns, gleichmäßig, von neuem bis zum Neuen. Immer wieder. Wir sterben, der feuerrote Ball nicht. Dieser überdauert unsere Zeit, bis zu jenen Stunden, in denen sich das Licht der Nacht in das Licht des Tages verwandelt. Feuerrot, brennend fackelt es vom Himmel. Sterne, die in unaufhaltsamer Geschwindigkeit auf uns niederregnen. Ist dies nun Traum oder Nichttraum. Welche Seite wird es sein, die des jenseitlichen auf uns zeigen wird.
Pater Richmon stand auf. Nachdenklich schritt er in seinem Zimmer umher. Richmons Unterkunft befand sich direkt unter dem Dach des Lehrerhauses. Eine Etage über dem Rektorat. Nachdem er Ellinoy und
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