Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Seine Stimme klang kalt. Er hatte nicht mehr das Liebe, das Anhängliche an sich. Mit starrem Blick betrachtete er den Pater. Richmon hielt inne. Seine Blicke sprangen hin und her. Von Rouven auf das Gemälde, von dem Gemälde wieder auf Rouven.
„Die Schlange, wer ist sie?“ entfuhr es Richmon. Unwillkürlich wanderte sein Blick wieder auf das Bild.
„Du hast es“, entgegnete Rouven außergewöhnlich ruhig. „Du willst es für dich behalten. Für dich.“
„Die Schlange, Rouven, wer ist sie?“ wiederholte sich Richmon. Rouven wandte sich dem Gemälde zu. Die Schlange, die sich am Fuße des Engels gewunden hatte, umschlang ein Bein des Knaben, der emporblickte in die Leere des Universums. Mit jedem Male, wie Richmon einen Blick auf das Gemälde warf, war ihm, als hätte die Schlange sich ein Stück fortbewegt.
„Du kannste es nicht verstehen“, sprach Rouven gelassen weiter. „Du kannst es lesen, aber nicht verstehen. Nicht du besitzt das Buch, sondern das Buch besitzt dich. Jeder Buchstabe wird deinen Glauben zerstören.“ Jäh drehte Rouven sich um. „Gib es mir!“ fuhr er den Pater an. „Du hast kein Recht, es zu behalten. Du kennst die Bedeutung. Du kennst sie und verachtest sie.“
Richmon machte mehrere Schritte rückwärts. Er wußte nicht, was er Rouven darauf erwidern sollte. Wenn er das Buch aus seinen Fingern gibt, so wird er es niemals lesen können. Niemals wird er erfahren, was die Wahrheit über das Dasein beinhaltet. Niemals wird er erfahren können, was sich außerhalb des Geschehens abspielt. Das Jenseits, wo es sich befindet, was es ist. Der Drang, alles zu wissen, die verborgensten Geheimnisse dieser Erde zu erfahren, die er in dem Buch zu erlesen hoffte, verstärkte sich von Sekunde zu Sekunde. Mit jedem Fordern, das Rouven ihm gegenüber äußerte, festigte sich seine Absicht, das Buch für sich zu behalten. Gleichzeitig aber mußte er mit seinem Gewissen, seinem Pflichtgefühl kämpfen, die er sich und den anderen gegenüber hatte. Immer wieder schreckte er vor sich selbst zurück. Vor seinem Ich, das plötzlich ein ganz anderes war.
Rouven ließ Richmon nicht aus den Augen. Dieser starrte ihn nur an. Fordernd streckte ihm Rouven die flache Hand entgegen. Wie das Gemälde es ausgedrückt hatte, bevor sich das Bildnis des Engels in nichts auflöste. Langsam wich Richmon zurück. Fuß um Fuß bewegte er sich rückwärts auf den Altar zu. Das schwarze Tuch verdeckte noch den steinernen Opfertisch. Erschrocken blieb er stehen, als er gegen den Altar stieß.
„Du hattest recht, Rouven“, sagte Richmon auf einmal. „Du hattest recht, als du gesagt hast, daß das Buch Jeremie in den Tod gestürzt hatte.“ Richmon versuchte Rouvens Augen zu fixieren. „Ego venio iterium“, sprach er weiter. „Das heißt, ich komme wieder . Verstehst du Rouven? Das Buch, Pontakus, er ist zurückgekommen. Er ist nicht mehr derselbe, Rouven. Pontakus mordet. Er mordet des Buches willen.“ Richmon hielt für einen Moment inne. Rouven streckte ihm immer noch fordernd seine Hand entgegen. „Ich – ich habe das Buch vernichtet“, setzte er flüsternd hinzu.
Rouven schüttelte energisch seinen Kopf. „Du lügst“, rief er ihm ungläubig entgegen. „Das sagst du nur, das sagst du nur.“
„Du hast ihn gesehen, Rouven“, erwiderte Richmon. „Genauso wie ich, hast du Pontakus gesehen. Das Buch war es, das ihn nicht sterben ließ. Solange das Buch noch war, ist auch er gewesen. Nun hat er seinen Frieden gefunden, Rouven. Mit der Vernichtung des Buches ist auch Pontakus vernichtet.“
Rouven zuckte plötzlich zusammen. Entsetzt starrte er auf den Altar. Auf das Tuch, das sich beinah unmerklich bewegte.
„Du mußt mir glauben, Rouven“, versuchte Richmon zu beteuern. „Es war das einzig Richtige. Denk an Mr. Sallivan. Er mußte ebenfalls mit dem Leben bezahlen.“
Das Tuch bewegte sich immer mehr. Plötzlich sah Rouven etwas Längliches, das lautlos durch den Stoff getrieben wurde. Ein Fingernagel, der sich langsam hindurchbohrte und sich eine Öffnung zurechtschlitzte.
Weder Richmon noch Rouven bemerkten das Geräusch, das zur selben Zeit vom Eingangsbereich herrührte. Nur Goodman war es, als vernehme er einen kaum wahrnehmbaren Laut an sein Ohr dringen. Obwohl er sich am weitesten davon entfernt befand, hatte er den Eindruck, daß jemand die schwere Eichentür öffnete und danach sanft wieder schloß.
Rouven rührte sich nicht von der Stelle. Eine Hand, eine knochige Hand kam zum
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