Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
Vom Netzwerk:
Mund.
    Er versteckte sich seit dem Morgengrauen in einem Brombeergestrüpp nahe der Baustelle und versuchte zu begreifen, was er mit ansehen musste.
    So vieles hatte sich verändert, seit er nach Birka aufgebrochen war. Die Gemeinde in Haithabu war aufgeblüht. Er hatte mindestens zwanzig Brüder gezählt, die auf der Baustelle zusammen mit den Handwerkern arbeiteten. DieChristen sahen gepflegt aus, schienen gesund und wohlgenährt zu sein.
    Und dann erst diese Kirche! Sie war schon jetzt wunderbar. Wie herrlich würde sie sein, wenn sie bald fertiggestellt wäre. Warum hatte er selbst niemals den Mut aufgebracht, in Haithabu eine Steinkirche zu errichten?
    Ansgar wusste die Antwort: Weil er dafür zu schwach war.
    Sein Herz verkrampfte sich. Er fühlte sich nutzlos und leer. Sein ganzes Leben lang hatte er danach getrachtet, ein Märtyrer zu werden. Er hatte seinem Herrn ein demütiger Diener sein wollen.
    «
Vade,
et martyrio coronatus ad me reverteris
– Gehe hin! Mit der Krone des Martyriums wirst du zu mir heimkehren.»
    Aber nein! Die Krone des Martyriums war ihm verwehrt geblieben.
    Nun hatte ein anderer Priester seinen Platz eingenommen. Ein dunkler, standhafter Mann, der den Heiden die Stirn geboten hatte. Beinahe wäre dieser Priester soeben selbst zum Märtyrer geworden. Aber dann war der Hauptmann von dem jungen Mann gefällt worden, der gestern zunächst Ansgar aus dem Hafenbecken gefischt hatte und später in die Klause gefallen war wie ein Geist aus heiterem Himmel.
    Ansgars Finger drückten die Dornenzweige, bis das Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll. Tränen verschleierten seinen Blick. Fassungslos verfolgte er, wie die Krieger ihren bewusstlosen Hauptmann auf das Pferd hievten und dann davontrabten. Unterdessen winkte der Priester einige Brüder herbei, die den hünenhaften Dänenauf ein Brett legten und ihn in das alte Gemeindehaus schleppten.
    Ob er das Silberkreuz noch hat?, fragte sich Ansgar.
    Nachdem der Däne durch das Dach gebrochen war, hatte Ansgar Angst bekommen und war zunächst Hals über Kopf aus der Klause geflohen. Als er jedoch später zurückkehrte, war der Mann verschwunden – und mit ihm das Kreuz, das Ansgar in seiner Panik vergessen hatte. Er war sich inzwischen absolut sicher, dass der junge Mann derjenige gewesen war, der sie vor dem Ertrinken gerettet hatte. Warum er Ansgar gefolgt war, war ihm indessen immer noch nicht klar. Hatte er ihn tatsächlich bestehlen wollen, oder hatte er das Kreuz an sich genommen, weil die Klause verlassen war?
    Oder – und diese Möglichkeit erschien Ansgar am wahrscheinlichsten – Gott hatte ihm diesen Jungen geschickt. Der Allmächtige wollte nicht, dass Ansgar starb. Nicht im Hafen und nicht in seiner Klause, in die er sich zurückgezogen hatte, um das Ende seines irdischen Daseins zu empfangen.
    Dieser Gedanke erschütterte ihn mehr als alles andere, das er in den vergangenen Jahren hatte durchleben müssen. Die Erkenntnis war schlimmer als der Verlust seines Bistums nach der Zerstörung der Hammaburg durch die Normannen vor nunmehr bald zwanzig Jahren. Sie war schlimmer als die Angriffe des Jarls Hovi auf die Christengemeinde von Haithabu. Sie war schlimmer als der Verlust des missionarischen Außenpostens in Birka.
    Nein, Ansgar zweifelte nicht an seinem Glauben. Das hatte er niemals getan. Aber er fürchtete das Urteil Gottes: Der Allmächtige zeigte ihm deutlich, wie sehr er von ihm enttäuscht war. Deshalb hatte er ihn an diesem Morgennoch einmal an die alte Wirkstätte geführt. Er hatte sehen sollen, dass andere dazu in der Lage waren, wozu er nicht fähig gewesen war.
    Ich habe versagt, dachte er. Ich habe Dich, o Gott, enttäuscht.
    Er beschloss, sich bis zum Ende seiner Tage in die Einsamkeit der Waldklause zurückzuziehen. Dort wollte er betend und fastend den erlösenden Tod herbeisehnen. Das einzige Opfer, das er seinem Herrn noch darbringen konnte, war den irdischen Leib für seine Verfehlungen zu bestrafen. Sollten sich Füchse und Wölfe an seinem Fleische satt essen. Sollten Asseln und Ameisen seine Knochen blank nagen.
    Vade, et martyrio coronatus ad me reverteris?
    Nein, in Schande musste er sterben.

44.
    Als Helgi die Augen aufschlug, schwebte über ihm das lächelnde, sommersprossige Gesicht seines Freundes.
    «Ich dachte schon, du würdest überhaupt nicht mehr aufwachen», sagte Ingvar.
    Helgi hatte höllische Kopfschmerzen. Er fühlte eine dicke Beule auf seiner Stirn.
    «Du hast einen Dickkopf», meinte

Weitere Kostenlose Bücher