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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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Helgi schnell.
    «Wer ist deine Mutter?»
    «Sie heißt Gullweig.»
    «Gullweig?»
    Helgi nickte und streckte seine Hand aus. «Wir haben eine Abmachung.»
    Da schaute der Priester plötzlich auf und warf ihm einen bohrenden Blick zu. Helgi begann zu schwitzen. Wie erstarrt stand er da, unfähig, sich zu rühren. Der Ring pendelte an dem Lederband in der erhobenen Hand des Priesters hin und her   … hin und her   … hin und her.
    In Helgis Kopf blitzten Bilder auf, die er nie zuvor gesehen hatte, als wäre er in eine andere Zeit, an einen anderen Ort versetzt. Wie ein Hagelschauer prasselten die Bilder auf ihn ein. Doch sie waren nicht fassbar. Es schien sich um flüchtige Eindrücke, um verwirrende und verstörende Gefühle zu handeln. Empfindungen wie Sehnsucht, Begierde, Einsamkeit und Misstrauen wallten in seinem Innersten auf in niemals zuvor erlebter Heftigkeit.
    Und vor allem spürte er Angst, nackte, kalte Angst.
    Er spürte den Tod – seinen Tod! Den seines Fleisches und den seiner Seele. Er ertrank in eisigem Wasser. Ein brennendes Haus stürzte über ihm zusammen. Er wurde mit Knüppeln und Äxten geschlagen, gefoltert, missbraucht. Dann war es ihm, als steige er aus dem Totenreich empor. Als werde er hinaufgesogen wie durch einen Schlund, werde ausgespien – und ins Licht zurückgeworfen. Und er wollte weiter, immer weiter, hinein ins Leben.
    Da drang plötzlich von weit entfernt eine Stimme an seine Ohren. Es war die Stimme des Priesters, der fragte: «Wer bist du?»
    «Mutter», hörte Helgi sich selbst sagen.
    «Wer bist du?»
    «Mutter!»
    Der pendelnde Ring verschwand vor Helgis Augen, und er erwachte. Der Priester gab ihm den Ring zurück.
    Er sagte: «Du bist nicht der, der du vorgibst zu sein.»
    Helgi verstand nicht, was der Munki damit meinte. Er legte das Lederband wieder um den Hals und schlüpfte, so schnell er nur konnte, in seine Kleidung. Dann nahm er den Sack und eilte zum Vorhang.
    «Grüß deine Mutter von mir», rief der Priester ihm hinterher. «Deine Mutter!»

45.
    Der Schmiedewettbewerb sollte am siebten Tag nach dem Regenfest stattfinden.
    Helgi arbeitete unermüdlich und schmiedete fünf Tage und fünf Nächte lang. Er schlief nur wenige Stunden. Unwillig ließ er sich von Gullweig zu kurzen Unterbrechungen überreden. Die Mahlzeiten schlang er hastig und ohne Appetit hinunter.
    Seine Gedanken waren in dieser Zeit bei Einar gewesen. Alles andere, auch den Gedanken an Rúna, blendete er aus. Zunächst hatte er versucht, sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was sein Vater ihm über Schmiedekunst beigebracht hatte. Er hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, welche Glühfarben das Eisen bei welcher Temperatur annahm, wann und worin er es abschrecken musste. Er hatte sich daran erinnert, wie Hammer, Zange und Werkstück richtig zu halten und zu führen waren.
    Dabei hatte er immer Einars Stimme gehört.
Das Werkstück muss auf dem Amboss aufliegen, Junge, sonst reißt es dir beim Schlag die Hand ab! Und sieh dich verdammt noch einmal vor, dass das Stabende nicht übersteht – nun pass doch auf!
    Einars mahnende Stimme.
Verdammt, Junge, muss man dir denn alles dreimal erklären!
    Entschuldige, Vater. Ich hätte dir aufmerksamer zuhören sollen, murmelte Helgi bei sich.
    Schließlich hatte Helgi selbst zum Hammer gegriffen. Er hatte mit alten Werkstücken geübt, um keinen der kostbaren Eisenbarren zu verschwenden. Alles hatte er zusammengeklaubt, was Gullweig, wenn auch schweren Herzens, im Haushalt entbehren konnte. Und so landeten ein lange nicht mehr genutzter Grillrost, ein Dreibein, das als Topfhalter gedient hatte, sowie Dutzende alter Nieten und Nägel erneut in der Esse und anschließend auf dem Amboss.
    Am dritten Tag nach dem Regenfest war Helgi der Meinung, mit dem Schmieden des Schwerts beginnen zu können. Dies war natürlich weitaus schwieriger, als rostige Nieten zu Lanzenspitzen zu verformen, was er bislang getan hatte. Er musste nun verschieden harte Stähle so miteinander kombinieren, dass die Klinge fest und zugleich elastisch werden würde. Dafür waren unzählige Hammerschläge erforderlich – und nur ein einziger Fehlschlag oder die falsche Schmiedetemperatur konnte die ganze Arbeit zunichtemachen.
    Aber – er schaffte es. Mit einer Hingabe, die er selbst niemals für möglich gehalten hätte, formte Helgi eine Schwertklinge, die dem Andenken seines Vaters würdig war. Am Nachmittag des sechsten Tages war es endlich vollbracht! Der Stahl war gehärtet,

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