Das Buch der Sünden
brauste über die Dächer und fegte brüllend durch die Gassen. Der Wind riss Stroh von den Häusern und blies es zusammen mit dem Staub der ausgetrockneten Felder übers Land. Blitze zuckten, und es donnerte in immer kürzeren Abständen. Die Wucht der dumpfen Schläge ließ die Dächer erbeben.
Aber noch immer war kein einziger Tropfen des erlösenden Regens gefallen.
Donner und Sturmgeheul hallten in Odos Ohren, als er sich durch die sturmdurchfluteten Gassen der Stadt kämpfte. Über seiner Schulter hing der Beutel, in dem sich die Kiste mit den Geräten, dem Umhang und dem Buch befand.
Er empfand ein Gefühl von tiefer Dankbarkeit. Es war so weit. Er, der Knecht Gottes, hatte auf Erden den Weg bereitet für das heilige Jerusalem, für die Rückkehr des Allmächtigen. Odo hatte eine steinerne Kirche errichtet, hatte fünf Dämonen vernichtet, und nun würde er die letzten Dämonen Neid und Hochmut richten. Damit war der Weg frei für das Jüngste Gericht.
Einen Psalm murmelnd, zog er durch die menschenleeren Straßen. Die Bewohner hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen, da sie befürchteten, der Himmel könne ihnen auf den Kopf fallen. Damit hatten sie nicht einmal unrecht, dachte Odo belustigt.
«Die Gottlosen werden nicht bestehen im Gericht, noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten», murmelte er.«Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten, aber der Weg der Gottlosen führt ins Verderben.»
Odo ging direkt zu Helgis Haus. Vom Buckligen hatte er erfahren, dass heute der Wettkampf der Schmiede ausgetragen wurde. Er hatte also noch ausreichend Zeit, um die Wahrheit über den Jungen zu erfahren.
Helgi. Der über Gott Erhabene. Der Sohn des Verderbers.
Ragnars Höllenbrut! Der Vater aller Sünden.
Der Ring hatte ihn verraten.
Ihr
Ring. Alexandras Ring. Oh, Mutter!
Die Erkenntnis hatte Odo mitten ins Herz getroffen. Tagelang hatte er sich im Wald verkrochen, hatte pausenlos gebetet und mit Gott Zwiesprache gehalten. Schließlich war Odo klar geworden, dass dies alles nur ein weiterer Streich des Teufels war.
Der Satan machte sich lustig. Er hatte sich im Leib des jungen Mannes verkrochen, den er selbst gezeugt hatte.
Der Teufel fühlte sich noch immer sicher.
Odo erreichte die Schmiede und klopfte an.
Eine kleine alte Frau mit schlohweißem Haar öffnete die Tür einen Spalt. Sie hatte weiche Haut und sanftmütige Züge. «Wer bist du?», wollte sie wissen.
«Mein Name lautet Odo. Ich bin der Priester der christlichen Gemeinde von Haithabu. Bitte lass mich herein.»
Gullweig wich nicht zur Seite. «Warum sollte ich das tun? Ich kenne dich nicht.»
«Ich muss mit dir über deinen Sohn reden.»
«Helgi? Er ist nicht zu Hause.»
«Das weiß ich, Gullweig.» Odo lächelte milde. «Dein Junge steckt in großen Schwierigkeiten.»
Die Alte verzog das Gesicht. «Was ist geschehen?»
«Lass mich eintreten, dann werde ich es dir erzählen.»
Gullweig zögerte, doch dann öffnete sie die Tür. Sofort schlüpfte Odo an ihr vorbei. Nachdem sie ihm gefolgt war, griff er hinter sich und verriegelte die Tür von innen.
«Was soll das?», rief die Alte.
«Deine Nachbarn sollen nicht alles erfahren.»
Die Frau starrte Odo ungläubig an. «Nun rede doch endlich – was ist mit Helgi?»
«Wie ich schon sagte, er steckt in Schwierigkeiten», erwiderte Odo und schaute sich in der Schmiede um. Hier hatte sich der Dämon also in all den Jahren versteckt. Die Werkstatt sah aufgeräumt aus. Odo lächelte. Das Chaos verbirgt sich in der Ordnung, dachte er.
Die alte Frau zupfte am Ärmel seiner Kutte. «Ich will, dass du wieder gehst. Du gefällst mir nicht. Du hast keine guten Augen. Sag sofort, was du mir zu erzählen hast, oder ich rufe die Nachbarn zu Hilfe.»
Odo griff zu und packte Gullweig mit der einen Hand im Nacken, mit der anderen hielt er ihr den Mund zu. Ihre Augen weiteten sich vor Angst. Sie versuchte, Odos Arm wegzuschieben. Doch als er den Druck in ihrem Nacken verstärkte, verstand Gullweig. Sie war eine kluge Frau, die wusste, wann sie sich in ihr Schicksal zu ergeben hatte. Odo schleppte sie in die Schlafkammer und warf sie auf eines der Lager. Dann band er ihr die Hände auf den Rücken und knebelte sie mit einem Stofffetzen.
«Du wirst mir nun die Wahrheit über den Jungen erzählen, den du deinen Sohn nennst», sagte er. «Ich nehme dir jetzt den Knebel wieder ab. Aber ich warne dich: Wenn du schreist, schlitze ich dich auf.»
Er holte das Messer aus dem Beutel und hielt es
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