Das Buch der Sünden
Unterseite einer großen Flunder, einer
flóki,
im Wasser auf. Er packte den Fisch, riss ihm den Haken aus dem Maul und schleuderte ihn ans Ufer. Zwei weitere Flundern folgten. Rúna sammelte unterdessen die Fische ein und tötete sie durch einen kräftigen Schlag mit einem Knüppel.
Noch immer tobte etwas an der Leine. Nachdem Helgi einige leere Haken eingeholt hatte, war ihm klar, dass der starke Fisch am letzten Haken hängen musste. Helgi zog und zog, bis der Fisch endlich im Wasser vor ihm zappelte.
Doch als er danach greifen wollte, bekam er ihn nicht zu fassen. Es war ein Aal – und was für einer! Der schlangenförmige Körper war dick wie Helgis Unterarm. Die Leine auf Spannung haltend, stapfte er zum Ufer zurück, um so den Aal an Land zu ziehen. Doch auch dort ließ das Tier sich nicht bändigen. Die schleimige Haut verhinderte, dass Helgi den Fisch festhalten konnte. Immer wieder drehte sich das mindestens drei Fuß lange Tier aus seinen Händen, und bald war Helgi über und über mit stinkendem Schleim beschmiert.
Endlich griff Rúna ein. Sie krallte ihre Fingerkuppen indie Flanken des Aals und trennte ihm mit einem Messer, das sie im Fischerboot gefunden hatte, den Kopf ab. Die Wirbelsäule knackte, und der Fisch war besiegt.
Helgi schaute ihr bewundernd dabei zu.
Vielleicht ist sie
doch
ein Wassergeist, dachte er.
Die über dem Feuer bratenden Flundern und Aalstücke verbreiteten einen unwiderstehlichen Geruch, der ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Ungeduldig warteten sie darauf, dass die Fische fertig sein würden. Schließlich prüfte die junge Frau das Fleisch mit den Fingernägeln, und da es nun weiß und fest war, konnten sie endlich die Flundern mit Heißhunger verspeisen.
Doch als Helgi sich ein Stück vom Aal genehmigen wollte, sagte Ansgar: «Wir sollten die restlichen Fische für die weitere Reise aufheben. Es ist noch ein langer Weg nach Norden zu der Stadt Jellinge, wo wir den dänischen König aufsuchen werden.»
Helgi war überrascht. «Wie kommst du darauf, dass wir zu König Horick fahren?»
«Euer König wird sich dafür einsetzen, dass wir unter seinem Schutz nach Haithabu zurückkehren können», erklärte Ansgar. «Wie einst sein Großvater, Horick der Ältere – den ich eigenhändig getauft habe –, steht auch Horick der Jüngere auf der Seite der Christen. Als der ungläubige Jarl Hovi im Jahre des Herrn 854, also vor nunmehr bald zehn Jahren, die Kirche in Haithabu hat schließen lassen, sorgte Horick der Ältere dafür, dass sie wieder geöffnet wurde. Und noch vor meiner letzten Reise nach Birka vor zwei Jahren hat mir König Horick der Jüngere zugesichert, dass nicht nur in Haithabu, sondern sogar in der dänischen Stadt Ribe die Kirchenglocken läuten dürfen.»
Helgi dachte über Ansgars Worte nach. Die Idee, den König über die Vorfälle in Haithabu zu benachrichtigen, klang überzeugend. Wenn der König sich wirklich für sie starkmachen würde, könnte Helgi das Haus seiner Eltern wieder aufbauen, um dort mit Rúna einzuziehen. Gizur war tot, der Kryppa würde also keine Besitzansprüche mehr geltend machen können. Mit ihm war Helgis ärgster Konkurrent aus dem Weg geräumt, und nach der Feuerkatastrophe würde es für einen Schmied genügend Arbeit geben.
Aber was würde das Mädchen dazu sagen?
Als hätte sie seine Gedanken erraten, sprang Rúna wie von einer Wespe gestochen auf. «Niemals!», rief sie. «Ich bleibe keinen Tag länger in dem Land, in dem man mich zur Sklavin gemacht hat.»
Sie spuckte verächtlich ins Feuer, sodass die Glut zischte.
Ansgar hob beschwichtigend die Hände. «Mädchen – beruhige dich! Niemand wird dir mehr etwas zuleide tun.»
«Du bist keine Sklavin mehr», pflichtete Helgi dem Munki bei. «Gizur ist tot. Du bist eine Freie. Als solche wirst du mit mir nach Haithabu zurückkehren. Ich baue uns ein Haus und …»
«Ich kehre nicht in diese Stadt zurück!», unterbrach Rúna ihn.
Helgi war verzweifelt. Er hatte doch alles getan, um sie für sich zu gewinnen – wollte sie ihn gar nicht?
«Wohin willst du denn stattdessen gehen?», fragte Helgi hilflos.
«Dorthin, wo ich herkomme.»
«Zu dieser Insel? Nach Rujana?»
Sie nickte.
Ansgar wurde blass und bekreuzigte sich. «Allmächtiger! Rujana! Im Osten des Baltischen Meeres liegt der finsterste Teil dieser Welt. Dort leben die
Sclavi,
die Slawen, und der schrecklichste Stamm dieses riesigen Volkes ist derjenige, die man die Ranen nennt.
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