Das Buch der Sünden
Munkis benutzen diese Dinge, um sich damit Nachrichten mitzuteilen, oder sie schreiben ihre heiligen Wörter darin auf.»
«Schreiben?»
«Schriftzeichen.» Ihm fiel ein, dass sie keine Schrift kannte. «So etwas Ähnliches wie Runen.»
Sie schaute ihn fragend an.
Helgi überlegte kurz. «Man kann damit Botschaften übermitteln.»
Sie nickte beiläufig und bestückte den letzten der insgesamt zehn Haken, die an der Langleine befestigt waren.
«Kümmern sich in deinem Volk die Frauen um Jagd und Fischfang?», wollte Helgi wissen.
«Wenn man auf einer Insel aufwächst, sollte sich jeder damit auskennen, egal ob Frau oder Mann. Mein Volk lebt von den Fischen. Im Frühjahr und Herbst fangen wir Heringe, im Sommer Plattfische, außerdem Dorsche, Hechte, Barsche und Aale.»
«Diese Insel, von der du stammst, wie nennt man sie?», fragte Helgi.
«Rujana.»
«Rujana? Und was bedeutet der Name?»
«Das weiß ich nicht. Ich gehöre zum Stamm der Ranen. Vielleicht kommt der Name daher.»
Sie reichte Helgi das Ende der Langleine, an das ein mit einem Loch versehener, rundgeschliffener Stein geknotet war. Dann forderte sie Helgi auf, die Angel so weit wie möglich ins Wasser zu bringen. Sie selbst würde am Ufer zurückbleiben und das andere Ende der Leine festhalten.
Helgi zögerte nicht, ihren Anweisungen zu folgen. Er entledigte sich erneut seiner Kleider. Dann stieg er ins Wasser, während er die Angelhaken hinter sich herzog. Als ihm das Wasser bis zur Brust reichte, schleuderte er die Leine hinaus und kehrte wieder um. Rúna hatte unterdessen die Angel an einem Haselstock, den sie tief in den Boden gesteckt hatte, festgebunden. Jetzt würden sie nur noch darauf warten müssen, bis ein Fisch anbiss.
Helgis Magen knurrte wie ein wütender Wolf.
Allmählich ging die Sonne unter.
Nach einer Weile kam Ansgar zu ihnen und bat darum, nun endlich das Feuer anzünden zu dürfen. Am dunklen Himmel leuchteten bereits die ersten Sterne, also stimmte Helgi zu. Ansgar kehrte zum Lagerplatz zurück. Kurz darauf loderten die Flammen auf.
Helgi nahm die Leine zwischen Zeigefinger und Daumen und zupfte daran. Aber am anderen Ende regte sich noch immer nichts.
«Wenn wir nichts fangen, werden wir noch das verfluchte Buch essen müssen.»
«Das Wichtigste beim Fischen ist Geduld», entgegnete Rúna.
Helgi stöhnte. «Ich habe ja Geduld, sogar jede Menge. Aber ich habe auch Hunger.»
«Ich musste lernen, den Hunger zu vergessen.»
Helgi kniff verlegen die Lippen zusammen. Er hatte ihr nicht zu nahe treten wollen.
Sie schaute gedankenverloren über den dunklen Fjord. Auf der glatten Wasseroberfläche spiegelte sich der fahle Halbmond. Weit draußen durchbrach ein Fisch mit einem platschenden Geräusch die Oberfläche. Dann wurde es wieder still.
Helgi räusperte sich. Die Stille bedrängte ihn. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen. «Was ist damals mit deiner Familie geschehen?»
Sie schwieg eine Weile. Die Erinnerungen schienen sie zu belasten. Helgi befürchtete schon, dass er keine Antwort erhalten würde, als sie doch noch den Mund öffnete und mit leiser Stimme sagte: «Mein Vater und meine Mutter wurden getötet. Ich habe noch eine Schwester. Sie war nicht bei uns, als wir überfallen wurden.»
Helgi schluckte. «Deine Eltern wurden getötet? Weißt du, wer das getan hat?»
Sie senkte den Blick. «Ich will nicht darüber sprechen.»
Er nickte verständnisvoll. «Aber wenigstens ist dir ein Mensch aus deiner Familie geblieben», meinte er. «Ich habe niemanden mehr. Erst wurde mein Vater getötet und nun auch noch meine Mutter.»
«Ich habe auch niemanden mehr. Meine Schwester hasst mich.»
Während Helgi über die Antwort nachdachte, straffte sich plötzlich die Angelleine. Er sprang auf, um den Fisch an Land zu ziehen, doch Rúna hielt ihn zurück.
«Es sollen noch mehr Fische anbeißen.»
Helgi biss sich vor Ungeduld auf die Unterlippe. Er befürchtete, dass die Leine reißen könnte, denn es ruckteimmer heftiger am Haselstock. Die Zeit verstrich quälend langsam. Jetzt waren bestimmt schon drei oder vier Fische an die Haken gegangen.
Endlich hatte Rúna ein Einsehen. Sie nahm prüfend die Leine in die Hand, um die Gegenwehr zu spüren. Dann forderte sie Helgi auf, die Angel einzuholen. Das ließ er sich nicht zweimal sagen.
Der Zug war gewaltig. Helgi stapfte bis zu den Knien ins Wasser, um den Fischen entgegenzugehen. Dabei holte er die gespannte Leine vorsichtig ein. Kurz darauf blitzte die helle
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