Das Buch der Sünden
Wasser.
Weitere Männer drängten jetzt hinter dem Boot her. Einer stolperte jedoch über den Körper des Erschlagenen, fiel hin, und andere stürzten über ihn. Ein Knäuel aus Armen, Beinen und Köpfen balgte sich im schäumenden Wasser.
Das Boot nahm Fahrt auf und war bald für die Angreifer unerreichbar. Siegessicher rief Helgi: «Ich bin Helgi, Einars Sohn. Ich habe keine Angst vor euch!»
Plötzlich deutete Teška hektisch in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Am Ufer stand der Mann mit der Wolfsmaske und neben ihm Vyšemer.
In aller Ruhe nahm der Wolfsmann einen Pfeil aus seinemKöcher, träufelte eine Flüssigkeit aus einer kleinen Flasche über die Spitze und legte den Pfeil auf die Sehne seines Langbogens. Das silbergraue Wolfsfell schimmerte in der Dunkelheit, als der Mann den Bogen spannte. Die Sehne schnellte vor, und das Geschoss sauste durch die nachtdunkle Luft.
«Hinlegen», brüllte Helgi.
Doch er hatte zu lange gezögert. Ein glühender Schmerz loderte in seinem rechten Oberschenkel auf. Die Spitze hatte sich durch das Fleisch gebohrt und war im Knochen stecken geblieben.
Am Ufer jubelten die Seeräuber und Slawen.
Doch Helgi gönnte der Wolfsfratze den Triumph nicht. Nein, von einem Pfeil würde er sich nicht aufhalten lassen. Er zog die Riemen hart durch.
Der Wolfsmann spannte einen weiteren Pfeil ein, ließ dann aber den Bogen wieder sinken. Die Dunkelheit hatte das Boot verschluckt.
6.
Die Ereignisse waren in viel zu rascher Folge auf Teška eingestürzt, als dass sie alles sofort hätte begreifen können.
Sie waren von einem Menschenfresser verraten worden, von Obodriten und Seeräubern angegriffen worden, hatten ein Boot übers Land geschoben …
Und sie hatte einen Mann getötet. Vor ihrem geistigen Auge sah sie noch einmal den überraschten Ausdruck des Seeräubers, als die Axt in seinen Schädel fuhr. Sie hörte das Geräusch des Messers, als es aus seinen Zähnen rutschteund ins Boot fiel. Das Wasser gluckerte, als der Mann verschwand.
Der Pfeil!
«Mädchen, schau doch!», rief Ansgar. «Was geschieht mit ihm?»
Helgis Gesicht glänzte vor Schweiß. Seine aufgerissenen Augen quollen aus den Höhlen.
Ununterbrochen redete er, aber was er sagte, ergab keinen Sinn: «… sollen wir trinken köstlichen Trank, auch wenn wir Lust und Lande verloren …»
Er versuchte noch immer zu rudern. Aber die Ruderblätter trafen das Wasser nicht, sondern witschten unkontrolliert über die Oberfläche und ließen das Boot schlingern.
Bei Reric waren undeutlich die Fackellichter zu erkennen. Die Angreifer zogen sich zu ihrem Feuer zurück.
Teška schaute über die Schulter. Nicht weit entfernt befand sich zwischen der Landzunge und Küste eine schmale Durchfahrt, kaum breiter als dass dort zwei Handelsschiffe nebeneinander Platz gehabt hätten.
Helgi murmelte: «… stimme niemand ein Sterbelied an, schaut er durchbohrt die Brust mir auch …»
Teška und Ansgar knieten neben ihm nieder.
«Ist es der Pfeil?», fragte Ansgar.
Teška nickte stumm. Sie hatte gesehen, wie der Wolfsmann den Pfeil mit einer Flüssigkeit getränkt hatte. Die Spitze war vergiftet.
Helgi kreischte jetzt. «Nimm es weg, nimm es weg. Es steckt in meinem Bein. Ich will es nicht. Nimm es weg.»
Teška befühlte seine glühende Stirn und sagte zu Ansgar: «Hilf mir. Wir müssen ihn hinlegen. Ich werde weiterrudern.»
Sie zogen Helgi von der Ruderbank. Als er auf den Planken lag, krümmte er sich zusammen und bettelte um Wasser.
Teška erschauerte. Helgi schwebte in Lebensgefahr. Eine eiskalte Hand griff nach ihrem Herzen. Jetzt würde es auf sie ankommen. Nur auf sie.
«Können wir den Pfeil nicht herausziehen?», fragte Ansgar, während er Helgis fiebrige Stirn mit einem feuchten Stofffetzen abwischte.
Teška nahm zwischen den Riemen Platz. «Nein. Die Spitze hat Widerhaken.»
«Allmächtiger!», murmelte Ansgar.
Helgi griff sich an den Hals, als wolle er sich erwürgen. Er zitterte vor Kälte und schwitzte zugleich. Dann begann er, sich am ganzen Körper zu kratzen, als sei er von einem Schwarm Bienen angefallen worden.
Teška schlug die Ruder durch. Sie waren schwerer, als sie gedacht hatte. Schlag um Schlag nahm das Boot Fahrt auf.
Sie versuchte ihre Gedanken abzulenken und dachte an Rujana. Früher war sie häufig gerudert. Mit ihrem Vater Ranislav zum Fischen. Oder mit ihrer Schwester zum Schwimmen, bevor der Hass die beiden entzweit hatte.
Das Boot passierte die schmale
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